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Aber lassen wir diese traurige Geschichte doch hinter uns und reden wir stattdessen von etwas Angenehmen. Von Fußball zum Beispiel! Der tut niemandem weh, da ist der Gegner klar, und man kann sich wunderbar darüber streiten, welche Mannschaft die bessere ist - außerdem kann man da die lästige Politik außen vor lassen! Äh, Moment ...
Ich persönlich würde mich keineswegs als Fußballfan einordnen - die meisten Spiele langweilen mich einfach nur zu Tode. Deswegen habe ich, wenn mein Angebeteter ein Fußballspiel genießt, auch meistens den Laptop auf den Knien oder ein Buch in der Hand. Es gibt allerdings Ausnahmefälle, in denen ich selbst gebannt am Fernseher klebe, ohne auch nur einmal ins Buch zu schauen oder meinem Schatz die Ohren vollzuquatschen - so wie letzten Samstag beim Spiel Österreich gegen Italien. Denn obwohl meine Landsleute verloren haben, haben sie es doch ihrem überaus starken Gegner nicht leicht gemacht. Selbst im Ausland wird dieses Spiel als das bisher spannendste der Saison bezeichnet. Und doch kann ich es nur mit Vorbehalt genießen - denn wie ihr vielleicht schon gemerkt habt, läuft bei mir das Hirn leider immer im Hintergrund mit. Und dabei kommt nicht immer was Gutes heraus.
Schon allein die Tatsache, dass die Europameisterschaft im Jahr 2021 stattfindet, sich aber immer noch "EM 2020" nennt, treibt mich in den Wahnsinn, auch wenn ich noch so sehr weiß, da es da um die Verträge geht, die ansonsten angepasst werden müssten. Wahrscheinlich geht es auch darum, dass man sonst die ganzen Colaflaschen, Chipspackungen und Panini-Alben neu bedrucken hätte müssen. Aber das ist i-Tüpfelchen-Reiterei, besonders im Vergleich zu all dem anderen, was mich an dieser Fußball-Maschinerie so verdammt sauer macht. Nun ist es für mich selbstverständlich absolut nachvollziehbar, dass man nach beinahe eineinhalb Jahren Corona, Corona, Corona auch mal über etwas anderes diskutieren will. Und dass man die neu gewonnenen Freiheiten in vollen Zügen auskostet. Ich bin halt leider anders - ich kann nicht einfach ausblenden, was da im Hintergrund so alles abläuft. Denn Fußball ist nach außen hin selbstverständlich völlig harmlos, ja sogar integrativ - nicht zuletzt hat das runde Leder (auch wenn es mittlerweile nicht mehr ausschließlich Leder ist) auch meinem Freund bei der Integration gute Dienste geleistet. Aber hinter der Hochglanzfassade lauern Geldgier und Skrupellosigkeit, die auch über Leichen geht, wenn es denn sein muss.
Denn natürlich ist ein "Geisterspiel" öde, das Geschrei der Fans motivierend - allerdings vergessen wir leider nur allzu oft, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Wie man am Beispiel Ungarn und England gesehen hat, wo die Menschen sich maskenlos schreiend dicht an dicht gedrängt haben. Ja, ich weiß - was für eine spießige Spielverderberin ich doch bin! Aber ich sage mal so - ich möchte diese Freiheiten dauerhaft zurück und nicht nur über den Sommer. Auch wenn ich zugeben muss, dass es durchaus Einschränkungen gibt, die ich mir auch für die Zukunft vorstellen könnte - ich halte es zum Beispiel für eine total gute Idee, dass Fremde mir auch nach der Pandemie nicht mehr ihren schlechten Atem ins Gesicht husten dürfen. Und dass sich mein Hintermann in der Warteschlange nicht mehr einfach so, ohne dass wir auch nur einander vorgestellt wurden, an mich kuscheln darf. Aber was momentan in der EM oft veranstaltet wird, ist in etwa so wie Sex mit lauter Fremden ohne Kondom - wer die Konsequenzen trägt, darf sich nicht wundern. Vergessen wir nicht: Einer der schlimmsten Corona-Hotspots, der zu überlasteten Krankenhäusern und Krematorien sowie einer unfassbaren Menge an Toten geführt hat, war Bergamo - wo noch im März 2020 ein Europacup-Spiel stattfand, nachdem bereits die ersten Covid-19-Fälle von Personen, die keine Verbindung zu China gehabt hatten, gemeldet worden waren. Trotz dieses Wissens und trotz der Warnungen, dass die neue Delta-Variante, die sich aktuell in Großbritannien verbreitet, die Infektionszahlen wieder aufwärts treiben könnte, wird die EM als "Strahl der Hoffnung" beworben, als "Zeichen, dass eine gewisse Normalität zurückkehrt". Wie gesagt - ich möchte kein Spielverderber sein, ich möchte aber auch kein zweites Bergamo oder Ischgl.
Ganz allgemein habe ich allerdings den Eindruck, dass Fußball für viele bedeutet, eine Menge Extrawürste zu verteilen. So wurde zu Beginn der Pandemie noch möglichst oft in möglichst vollen Stadien gespielt - etwa in Leipzig unmittelbar vor dem damals bereits absehbaren Lockdown, wo sich noch etliche Fans nachweislich schön angesteckt haben. Und auch in Zeiten, als der Rest der Welt sich zu Hause verschanzen musste, musste die Bundesliga weitergehen - bedeutet ja Kohle -, während Kindern der Mannschaftssport im Freien verboten war. Und auch Infektionsschutz für die Spieler war zu diesen Zeiten ein Fremdwort - warum auch, das sind ja schließlich Fußballgötter, und Götter sind bekanntlich über alles und jeden erhaben.
Ein weiterer Punkt ist, dass sich sowohl FIFA als auch UEFA in ihren Statuten gegen jede Art von Diskriminierung aussprechen - Stellung beziehen funktioniert allerdings nur, solange es nicht zu unbequem ist. Und so strahlen uns aus den Fußball-Werbespots alle Farben des Regenbogens entgegen, während die Allianz-Arena in München diese nicht tragen darf, während Deutschland gegen Ungarn antritt - jenes Land mit Viktor Orbán als Staatsoberhaupt, welcher ein Gesetz nach dem anderen verabschiedet, das seine Feindseligkeit gegenüber der LGBTQI+-Community mehr als deutlich macht. Erst eine Woche zuvor wurde die Aufklärung über Homosexualität und Transgender in Schulen sowie Werbung und für Kinder und Jugendliche zugängliche Medien, in denen nicht hetero-normative Personen als Teil der Normalität dargestellt werden, verboten. Nun nahm die UEFA bereits Ermittlungen gegen den DFB auf, als Manuel Neuer, Torwart und Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, seine Armbinde in den Farben des Regenbogens trug - ein klares und wichtiges Zeichen der Solidarität gegenüber der LGBTQI+-Community. Dem DFB drohte eine Geldstrafe. Begründung: Das Tragen der Regenbogenfarben sei keine Vertretung von Werten, sondern ein politisches Statement, was laut der Statuten der UEFA verboten sei. Immerhin bewirkte der öffentliche Druck, dass die UEFA die Ermittlungen am selben Abend noch einstellte. In den Regenbogenfarben erstrahlen durfte die Allianz-Arena trotzdem nicht - und Péter Szijjártó, der Außenminister Ungarns, entblödete sich nicht, darauf hinzuweisen, dass gerade Deutschland wissen müsse, dass es schlecht sei, Sportveranstaltungen mit Politik zu vermischen. Ein geschmackloserer Vergleich als die Solidarität mit der Queer-Community mit der NS-Vergangenheit Deutschlands fiel ihm nicht ein, oder wie? Der Witz dabei: Obwohl die UEFA das Verbot der Regenbogenfarben damit begründete, politisch neutral zu sein, ist gerade diese Reaktion alles andere als das. Denn den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, sich nur dann gegen Diskriminierung zu stellen, wenn es gerade bequem ist und es dort zu unterlassen, wo es unangenehm werden könnte, ist bereits ein politisches Statement, ob es der UEFA nun passt oder nicht. Denn damit gibt sie zu verstehen, dass Menschenrechte dort aufhören, wo der Fußballplatz beginnt.
Und das ist eines der größten Probleme dieses Vereins - denn damit macht er sich argumentativ gemein mit Diktatoren und Faschisten. Denn auch diese erklären Sport für komplett unpolitisch, nutzen diesen aber für ihre politische Agenda. Denn das Symbol für LGBTQI+, die Regenbogenfahne, kommt gerade recht, solange es in der Werbung gut aussieht, und Statements gegen Rassismus sind inzwischen obligatorisch. Darüber, dass nicht-weiße Spieler des DFB und ÖFB abseits des Spielfeldes immer noch rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sind, wird allerdings der Mantel des Schweigens gebreitet. Ebenso, wie auch sonst nicht viel Wert auf Menschenrechte gelegt wird, sobald es um die Kohle geht - das beweist schon der Umstand, dass die dänische Nationalmannschaft weiterspielen musste, nachdem Christian Eriksen auf dem Spielfeld bewusstlos zusammengebrochen war und vom Platz getragen werden musste. Ein tolles Vorbild, diese UEFA - Mitgefühl spielt keine Rolle, wenn die Kohle stimmen muss, im Gegenteil, es ist eher lästig. Wie im alten Rom: Das Volk braucht Brot und Spiele, um zufrieden zu sein, selbst wenn man dafür über Leichen geht - wenn auch im Fall von Eriksen nur potenziell, denn zum Glück ist er noch am Leben. Ganz abgesehen davon spielt man mit mehreren Austragungsorten nicht nur der Pandemie in die Hände, sondern tut auch dem Klima keinen Gefallen.
Wenn es um die Fußball-Weltmeisterschaft im nächsten Jahr geht, wird es allerdings noch deutlich schwieriger - denn in Katar, das diese ausrichten soll, wird Sexualität, die vom Hetero-Normativen abweicht, strafrechtlich verfolgt. Ganz abgesehen davon, dass schon die Vergabe der WM 2022 an ein Land, das nicht gerade als "Fußballnation" glänzt, nicht nur für mich mehr als fragwürdig ist - ich denke, es besteht kein Zweifel, dass da eine Menge Geld geflossen ist. Da spielt die allgemein ziemlich unterirdische Menschenrechtslage im Emirat natürlich keine Rolle mehr - etwa die brutalen Arbeitsbedingungen an den Baustellen, die in den letzten zehn Jahren laut The Guardian insgesamt 6.751 Arbeitsmigranten aus Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan und Sri Lanka das Leben kosteten - die Todesfälle unter Arbeitsmigranten aus Kenia und von den Philippinen sind in dieser Statistik gar nicht enthalten, da über diese keine Auskunft gegeben wird, aber alles in allem kann man von knapp 2 Millionen Todesfällen unter Arbeitsmigranten ausgehen. Und darunter sind auch jene, die die Stadien für die kommende Weltmeisterschaft errichtet haben: möglicherweise das tödlichste Bauprojekt seit Errichtung der Pyramiden von Gizeh.
Alles in allem gibt es gute Gründe, auf den Genuss großer Fußballveranstaltungen zu verzichten - auch wenn ich durchaus gut nachvollziehen kann, dass nicht jeder das möchte. Und ich insgesamt der Meinung bin, dass man die Korruption der einzelnen Vereine zuallerletzt den Fans zur Last legen soll - das ist ebenso eine Verschiebung des Problems, wie die Verantwortung für die Ausbeutung von Plantagenarbeitern ausschließlich in die Hände des Konsumenten zu legen (und damit sage ich nicht, dass wir nicht eine gewisse Mitverantwortung tragen). Und entgegen vieler anderer Nicht-Fans bin ich nicht nur nicht der Ansicht, dass alle Fußballer und alle Fußballfans dumm sind, ich erlebe auch selbst, dass der Intellekt unter jenen, die der runden Leder-PVC-Mischung (hihihi) zugetan sind, genauso heterogen ist wie bei vielen anderen Gruppen. So habe ich den Eindruck, dass der österreichische Nationalspieler David Alaba durchaus etwas im Kopf hat, während ich bei Marko Arnautović und Ex-Spieler Ivica Vastiċ manchmal ein bisschen daran zweifle. Aber natürlich kann es auch sein, dass ich mich irre - in diesem Fall möchte ich mich bei den beiden letzteren, zweifellos hoch talentierten Persönlichkeiten entschuldigen. Selbstverständlich kann man ein glühender Fußballfan und trotzdem kritisch gegen die Vereins-Maschinerie sein. Und natürlich können diejenigen, die mich wirklich gut kennen, mir auch zur Last legen, dass ich selbst immer sehr ungern und schlecht Fußball gespielt habe. Aber das ist eine andere Geschichte.
vousvoyez
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