Samstag, 26. Juni 2021

Sollte ich jemals einen elektrischen Stuhl haben, werde ich umgehend meine Ernährung umstellen

@roaming_angel
Dass die richtige Ernährung immens wichtig für die Entwicklung ist, wissen wir ja schon länger. Ebenso wissen wir auch, dass eine gute Schulbildung essenziell ist, um im Leben weiterzukommen. Nun, ich habe ja schon in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass wir in einem höchst veralteten Bildungssystem feststecken, an dem lediglich ein paar Veränderungen vorgenommen wurden, die man, bezogen auf die Gesamtsituation, eigentlich nur "kosmetisch" nennen kann. Denn nach wie vor geht es eigentlich nur darum, eine Unmenge an Inhalten auswendig zu lernen, die man, nachdem sie abgeprüft wurden, sofort wieder vergisst.

Doch nicht nur das ist es, was momentan im Argen liegt - eine Gesundheitskrise, wie man sie seit einem Jahrhundert nicht mehr erlebt hat, hat Schüler weltweit ins Home Schooling verbannt, wo ihr bildungstechnisches Fortkommen von der technischen Ausrüstung ihres Haushalts und dem Engagement der Eltern abhing, dazwischen mussten sie im Klassenzimmer frieren, weil das einzige, was man den Sommer über zustande gebracht hatte, die Empfehlung war, ausreichend zu lüften. Und als ob das noch nicht genug wäre, mussten die jungen Leute auch noch auf das allermeiste verzichten, was Jugend eigentlich ausmacht: Reisen, Konzerte, Partys, neue Leute treffen - klar, alles nicht lebensnotwendig, aber uns möchte ich mal sehen, wenn man das in diesem Alter von uns verlangt hätte! Und jetzt, wo die Impfung da ist, müssen die Jungen sich ganz hinten anstellen, weil Covid-19 nun mal für andere gefährlicher ist und diese deshalb priorisiert werden. Die meisten von ihnen haben die Situation auch durchaus verstanden und sich zurückgehalten - mittlerweile haben wir die Situation aber wieder halbwegs im Griff, und so bevölkern die jungen Leute zum Feiern die Parks, öffentlichen Plätze und Flussufer - und rufen regelmäßig die Polizei auf den Plan. In meiner Stadt ging das so weit, dass ein Hetzartikel der FPÖ mit einem reißerischen Video, das alle Skater als Kriminelle hinstellte, zu einem "Trickverbot" für Skater und Innen auf öffentlichen Plätzen führte.

Aber genug der Jammerei - jetzt hat das ja alles ein Ende. Der Lockdown ist vorbei, die jüngeren Schüler haben sogar einen Ninja-Pass bekommen. Wie cool ist das denn - ein Ninja-Pass! In den man jedes Mal, nachdem man negativ getestet wurde, ein Pickerl einkleben kann. Das ist so ungerecht - ich will auch einen Ninja-Pass! Auch wenn ich schon 37 bin! Und nicht nur das - die Schüler sollen an diesem Montag noch zusätzlich von unserem heißgeliebten Bildungsminister Heinz Faßmann für ihre Engelsgeduld belohnt werden, damit alle Welt sieht, in was für einem glücklichen Land wir doch leben und wie lieb die türkise Familie doch ist. Denn nachdem im letzten Jahr auf allen Balkonen für Krankenhauspersonal und Pflegekräfte geklatscht wurde, auch wenn sie sich davon nichts kaufen konnte, aber immerhin, bekommt die Jugend nun ein Konzert spendiert, das online in alle Klassenzimmer übertragen wird! Und wer sind die illustren Musiker, die dafür engagiert wurden? Nun, auf dem Programm stehen Pizzera & Jaus (zugegeben, die sind noch okay), Alle Achtung (häää?), Tina Naderer (wer is'n des?) und DJ Ötzi!

Nun, wie muss ich mir diese Entscheidung im Bildungsministerium vorstellen? Saßen die da alle zusammen und diskutierten? "Ist der David Hasselhoff noch hip bei der Jugend?" - "Naaa, i glaub, die mögen eher diesen ... no ... den ozwickt'n Schweizer do, oder net?" Und dann steht ein Beamter um die 60 auf, total begeistert: "Ich glaub, der DJ Ötzi ist gerate to-tal angesagt!" Wahrscheinlich tritt der Bildungsminister vor dem Konzert dann auch besonders "jugendlich" auf - Basecap, Hoodie und Baggy Pants, alles verkehrt herum angezogen, das hat er sich bei Criss Cross abgeschaut. Und wenn das Konzert vorbei ist, kommt er dann noch einmal auf die Bühne und fragt gönnerhaft lächelnd: "Und, hobt's scho Ohrenbluten? Jo? Jo?"

Nun, nichts gegen Geri Friedle persönlich, ich finde ihn in seinen Interviews äußerst sympathisch - aber ernsthaft? Das ist, als würde man zu Weihnachten ein paar lange Unterhosen geschenkt bekommen. Oder, als hätte man uns als Jugendliche ein Udo-Jürgens-Konzert spendiert. Andreas Gabalier und die Zillertaler Schürzenjäger waren schon vergeben, oder wie? Heintje hat abgesagt, Catarina Valente wollte die Fahrtspesen zurück und Jopi Heesters ist leider viel zu früh verstorben? Oder will man die Jugend etwa schon mal prophylaktisch in die Après-Ski-Kultur einführen, damit die Super-Spreader-Events bei der nächsten Pandemie nicht verlorengehen und das Kitzloch sich nicht einsam fühlt? Zumal DJ Ötzi bereits in meiner Generation die Jugend gespaltet hat - ich für meinen Teil fand sie immer schon schrecklich. Ich meine - ist die Jugend nach Distance Learning und Maskenpflicht nicht schon genug gestraft? Was kommt denn dann als nächstes - die Wiedereinführung von Karzer und Rohrstock? Oder will man ihnen nach den Sommerferien wieder "was Gutes tun" und führt die gute Fee ein, die einem mit Flügeln auf dem Rücken und Zauberstab in der Hand die Gurgeltests überreicht? Oder ein Flötenkonzert von Basti und Gernot zu Schulbeginn? Ich finde, es ist allmählich Zeit, Anzeige in Den Haag zu erstatten - denn eigentlich ist die Europäische Menschenrechtskonvention in unseren Grundrechten verankert. Was auch bedeutet, dass seelische Grausamkeit verboten ist. Wie unser Kanzler einst sagte, als er vor dem Trümmerhaufen der geplatzten Koalition stand: Genug ist genug!

Theoretisch hätte man das Geld, das man dafür aufwendet, in bessere Ausstattung der Klassenzimmer, etwa die lang ersehnten Luftfilter, und in einen Ausbau der Digitalisierung stecken können. Denn die Pandemie ist noch nicht vorbei, und das letzte Jahr sollte uns eigentlich gelehrt haben, dass die Fallzahlen im Herbst möglicherweise wieder ansteigen könnten. Stattdessen wird an allen Ecken und Enden gespart, werden Posten gestrichen und Ressourcen gekürzt. Aber okay, das ist wohl der Ausgleich dafür, dass der Musikunterricht zu jenen Fächern gehört, die schon seit Jahrzehnten als erste von eventuellen Sparmaßnahmen betroffen sind. Und hey, die Jugend ist sicher ganz begeistert davon, im stickigen Klassenzimmer zu sitzen und sich eine Musik reinzuziehen, die Lichtjahre von ihrer Gegenwart entfernt ist. Eigentlich könnte man sich denken, dass die junge Generation nach den Lockdowns mal genug von gestreamten Inhalten hat - aber das Bildungsministerium scheint jetzt erst recht auf den Geschmack gekommen zu sein. Auch wenn jenen, die dort sitzen, eigentlich bekannt sein sollte, dass die letzten Schulwochen eher für Ausflüge und Projekte genutzt werden, aber man darf nicht undankbar sein: Diese Initiative legt zumindest offen, wieviel Ahnung das Ministerium von der Lebenswirklichkeit der Jugend hat. Aber vielleicht sollten wir einfach froh sein, dass es keine gemeinsame Singstunde geben wird - mit Liedern aus dem Rotweißroten Liederbuch von Willi Molterer, Liesi Gehrer und Wolfi Schüssel. Zumindest haben dann die Lehrer ein adäquates Druckmittel: "Wenn ihr brav seid's, gemma Eis essen - wenn ihr schlimm seid's, schau ma DJ Ötzi." Eigentlich kann man da nur mit den Worten der Regierung antworten: Schau auf dich. Bleib zu Hause. Abstand ist die beste Medizin.

(Und ein kleiner Hinweis an alle, die gern shitstormen: Lasst die Künstler in Ruhe! Die können nichts dafür.)

vousvoyez

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