Montag, 11. Januar 2021

Nicht jeder, der aus dem Rahmen fällt, war vorher im Bilde

Ein Satz, der viel Potenzial hat - und vieles erklärt. Beispielsweise, dass man nicht automatisch Recht hat, nur weil man sich für etwas Besonderes hält. Oder dass nicht alles, was provoziert, eine wichtige Aussage enthält. Man könnte ihn beispielsweise auf Jake Angeli beziehen, den Typen mit dem Fellkostüm und den Hörnern, der angeblich zur "Antifa" gehören soll, der aber auf jener BLM-Demo, auf der er fotografiert wurde, mit QAnon-Schild herumspaziert ist und es gar nicht so toll findet, dass die eigenen Leute ihn auf einmal zur Gegenseite abschieben wollen.

Wie immer, wenn etwas passiert wie neulich in Washington, versuche ich, angemessene Worte dafür zu finden, aber was auch immer ich niederschreibe, passt irgendwie nicht für einen Blog-Artikel. Häufig auch, weil natürlich irgendwann sowieso alles gesagt ist - und ein allgemein gehaltener Post meinerseits im Prinzip eher überflüssig ist. Eigentlich möchte ich nur soviel sagen: Es ist nicht das erste Mal, dass von verschiedenen Seiten davor gewarnt wird, dass gezielte Desinformation, die die Stimmung in eine bestimmte Richtung lenken soll, gepaart mit der Entmenschlichung politischer Gegner durch wirre, unbelegte Behauptungen und dem Untergraben des Vertrauens der Allgemeinheit in eine unabhängige Berichterstattung, ein dezidiert anti-demokratisches Verhalten ist. Und letztendlich zu dem führt, was wir in kleinerem Rahmen auch schon hier in Österreich oder auch in Deutschland beobachten können: Ein Haufen Leute, die es nie notwendig hatten, solidarisch zu sein, fordern im Grunde ein System, das sie selbst zum Mittelpunkt macht und ihnen alle Rechte einräumt, während diejenigen, die nicht so sind wie sie, zu Menschen zweiter Klasse deklariert und ihre Rechte eingeschränkt werden sollen. Viel mehr sehe ich in diesem Akt des Wahnsinns ehrlich gesagt eher nicht. Wir sollten aber nicht den Fehler machen, zu glauben, nur weil das sozusagen "auf der anderen Seite des Teichs" passiert ist, könnte etwas Vergleichbares hier unter keinen Umständen passieren. Der Sturm auf den Reichstag im August, auch wenn dieser im Vergleich dazu eher ein Lüftchen war, zeigt das Gegenteil. 

Und da zu diesem Thema ja bereits schon eine Menge gesagt wurde, möchte ich mich wieder mal in die Welt der urbanen Legenden begeben - wobei ich vor allem eine besprechen möchte, die bezüglich der Ereignisse am 6. Januar wieder einmal aufgetaucht ist. Ich spreche hier vom sogenannten Simpsons-Orakel.
Ich glaube nicht, dass es unter meinem Leser jemanden gibt, der die beliebte, vielfach ausgezeichnete US-amerikanische Zeichentrickserie von Matt Groening, die bereits seit über dreißig Jahren fester Bestandteil des Fernsehprogramms ist, nicht kennt. Da ich ja nicht mehr ganz so blutjung bin, habe ich den Simpsons-Hype quasi von Anfang an miterlebt - als Teenager war ich eine Zeitlang regelrecht süchtig danach. Als jedoch die Qualität der Episoden langsam nachließ und sich meine persönliche Lebenswelt auch allmählich veränderte, bin ich langsam davon abgekommen und kehre heute nur noch selten zu der früher so geliebten Fernsehfamilie in Gelb zurück, auch wenn es die eine oder andere Episode gibt, für die ich mich immer noch begeistern kann. Was wir allerdings bis heute mit Sicherheit sagen können, ist, dass die Serie sich immer am Puls der Zeit bewegt und auch aktuelle Ereignisse in ihre Geschichten mit einbezogen hat. Etwa jene Horror-Folge, die ich immer noch liebe und die eine beliebte Millennium-Verschwörungstheorie aufs Korn nimmt - jene, bei der es darum ging, dass die Computersysteme diesen großen Zahlensprung nicht schaffen würden und dass deswegen alle elektronischen Geräte nach der Umstellung der Jahreszahl ausfallen oder gar verrückt spielen. Es gibt jedoch auch Leute, die behaupten, die Macher der Simpsons könnten die Zukunft voraussagen - und auf diese Behauptung möchte ich heute einmal eingehen.

Aktuell macht im Netz das Bild der als "Hausmeister Willie" bekannten Figur die Runde, die mit nacktem, tätowiertem Oberkörper vor dem Capitol posiert und dabei eine Fellmütze mit Hörnern trägt, die natürlich an Jake Angelis Kostümierung denken lässt; außerdem schwingt er eine amerikanische Flagge. Das ist für viele der Beweis, dass jemand im Simpsons-Team, vielleicht sogar Matt Groening selbst, über hellseherische Fähigkeiten verfügt - hat er doch den Angriff aufs Capitol vorausgesagt. Nun - die auf dem Bild sichtbare Figur kommt in keiner Simpsons-Episode vor. Und wir sollten ja langsam alle wissen, wie leicht es heutzutage ist, Bilder und Videos digital nachzubearbeiten. Dieses Bild ist also keine "Voraussage", sondern eine Reaktion auf die Ereignisse vom 6. Jänner.

Ähnlich verhält es sich mit einer Folge aus dem Jahr 1993, in der die Simpsons angeblich die Corona-Pandemie voraussagten. In der Folge wird im Fernsehen ein "Saftenthafter" beworben, der aus einem ganzen Netz von Orangen einen einzigen Tropfen Saft gewinnen kann - sprich, es ist tatsächlich eine sehr witzige Folge. Diese Entsafter werden in Japan erzeugt und versendet; gezeigt werden Mitarbeiter der Firma in Osaka, die die Saftenthafter in Kartons packen. Einer von ihnen leidet an einer Grippeerkrankung und hustet in eines der Pakete, woraufhin die Erreger mit verpackt und an ihrem Endziel Springfield freigesetzt werden, weshalb sie einen Großteil der Stadtbewohner - auch die Familie Simpson mit Ausnahme von Marge - infizieren. Ist das der Beweis für eine Vorhersage? Natürlich nicht! Denn auch wenn der eine oder andere keinen Unterschied zwischen Chinesen und Japanern sehen will ("die schauen ja alle gleich aus"), so liegen diese beiden Länder rund 3.000 km auseinander und sind auch sonst nur oberflächlich vergleichbar (ähnlich wie viele europäische Länder). Die Episode mit dem kranken Mitarbeiter kann also eher als kritische Auseinandersetzung mit den oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Japan gesehen werden, die dazu führen, dass Leute krank zur Arbeit gehen. Was die Verbreitung der Infektion betrifft, so ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Virus die mehrere Wochen dauernde Reise ohne Wirt überleben kann - abgesehen davon, dass in der Episode nicht von Viren, sondern von "Bazillen" die Rede ist. Das im Netz gezeigte Video, das die Vorhersage "beweisen" soll, zeigt außerdem den Nachrichtensprecher Kent Brockman vor einer Einblendung des Schriftzugs "Coronavirus" - diese Szene stammt allerdings aus einer ganz anderen Episode und wurde zudem manipuliert. In Wirklichkeit steht da nämlich "Apocalypse Meow". Nun wird mir wohl jeder zustimmen, dass beunruhigende Virus-Pandemien kein ganz neues Phänomen sind - ich erinnere da nur an die Vogel- und die Schweinegrippe sowie an die frühere Version eines SARS-Virus im Jahr 2003. Die Simpsons haben also abermals nichts "vorausgesagt", sondern lediglich ein Thema, das uns im Grunde schon seit Jahrhunderten beschäftigt, aufgegriffen und gesellschaftskritisch verarbeitet.

Ebenso sollen die Simpsons vorausgesagt haben, dass Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten wird - und dass dies zu einem wirtschaftlichen Desaster führt. Tatsächlich gibt es eine Folge, in der Bart einen Blick in die Zukunft werfen kann - und in der Lisa Simpson Präsidentin der Vereinigten Staaten wird. Ihr Vorgänger war Donald Trump, und dieser soll die Wirtschaft zugrunde gerichtet haben. Haben die Autoren also doch hellseherische Fähigkeiten? Nein, immer noch nicht. Denn Trump war schon vor seiner unrühmlichen Karriere als Staatsoberhaupt eine bekannte Medienpersönlichkeit. Und schon vor seiner Kandidatur hat er mehrmals angekündigt, dass er sich eines Tages um die Präsidentschaft bewerben wolle. Da dies in glücklicheren Tagen eine eher absurde, lachhafte Vorstellung war und auch die meisten Experten diese Möglichkeit nicht in Betracht zogen, gab es darüber mehr als nur einen Witz. Und dass jemand, der so augenscheinlich keine Ahnung von Tuten und Blasen hat, nicht unbedingt gut für die Wirtschaft ist, liegt auf der Hand - auch wenn die amerikanische Wirtschaft vor Corona gar nicht so schlecht dastand, was allerdings eher an der Vorarbeit lag, die Obama geleistet hatte.

In einer Episode aus den späten 1990ern sollen außerdem die Terroranschläge vom 11. September 2001 vorhergesagt worden sein. Zeigen soll dies eine Szene, in der Lisa die Broschüre eines Busunternehmens hochhält, laut der eine Fahrt neun Dollar kosten soll. Auf dem Cover der Broschüre ist ein Bus vor der Skyline von New York zu sehen mit der Überschrift New York $ 9. Direkt neben der Neun sieht man die Zwillingstürme des World Trade Centers - was viele als Zeichen sehen, dass die beiden Türme die Zahl 11 darstellen sollen. Auf dem Cover soll also die "versteckte Botschaft" 9/11 zu sehen sein. Nun, ihr wisst, was ich von angeblich "versteckten Botschaften" halte - sie sind meistens nichts als das, was derjenige, der sie sehen will, hineininterpretiert, und wenn man will, kann man überall "versteckte Botschaften" sehen. Und so ist es auch in diesem Fall - das WTC war von seiner Erbauung bis zu seiner Zerstörung ein sehr charakteristisches Merkmal der Skyline von New York. Dass es also auf einer Broschüre über New York zu finden ist, ist nichts Ungewöhnliches. Da jetzt eine "versteckte Botschaft" zu vermuten, weil daneben zufällig die Ziffer Neun zu sehen ist, ist schon relativ weit hergeholt.

Auch andere Episoden sollen die Zukunft vorhergesagt haben. So soll eine Folge aus dem Jahr 1994, in der die Köchin der Elementarschule von Springfield "assorted horse parts" ("ausgewählte Körperteile von Pferden") in das Mittagessen der Schüler mischt, ein Hinweis auf den Pferdefleisch-Skandal sein, der 2013 in ganz Europa Schlagzeilen machte. Damals wurde bekannt, dass Betrüger 500 t Pferdefleisch als Rindfleisch verkauft hatten und dass die Lasagne verdi alla bolognese Anteile von Pferdefleisch enthielt. Nun, dass in Schulen nicht unbedingt hochqualitatives und bemerkenswert schmackhaftes Essen ausgegeben wird, ist nicht erst seit gestern bekannt. Dieses Phänomen begegnet uns sehr häufig, wenn es darum geht, eine große Anzahl an Menschen möglichst billig satt zu machen. Die Episode ist also keine "Vorhersage", sondern eher eine kritische Auseinandersetzung damit, dass wir häufig gar nicht wissen, was wir uns in die Öffnung unter der Nase schieben. Und dass auf die Qualität der Ernährung in den öffentlichen Schulen der USA - wie ich übrigens selbst auch feststellen musste - ganz offensichtlich kein Wert gelegt wird.

Ein Jahr zuvor wurde eine Episode ausgestrahlt, in der Homer Simpson und sein Nachbar Ned Flanders zusammen Las Vegas besuchen, wo sie auf die Zauberkünstler Gunter und Ernst treffen - die Zeichentrick-Version der damals berühmten Magier und Dompteure Siegfried und Roy, die tatsächlich aus Deutschland stammten und vor allem durch den Einsatz weißer Tiger und Löwen in ihren Shows berühmt wurden. Auch Gunter und Ernst haben einen weißen Tiger bei sich - der in dieser Episode einen der beiden Magier angreift. Tatsächlich wurde der Magier Roy, der im Mai letzten Jahres einer Covid-19-Erkrankung erlag, im Jahr 2003 bei einer Show von dem weißen Tiger Mantacore angegriffen und schwer verletzt. Was das betrifft - ich bin nicht die einzige, die der Meinung ist, dass wilde Tiere, insbesondere Raubtiere, in Las Vegas nichts verloren haben. Der Angriff von Mantacore war nicht der erste Vorfall, bei dem ein Raubtier seinen Dompteur angegriffen hat - das Risiko gehört zu diesem Beruf leider dazu. Was man zumindest sagen kann, ist, dass dem Tier ganz offensichtlich keine Schuld gegeben wurde und es elf Jahre später eines natürlichen Todes sterben durfte. Was zeigt, dass ein Umdenken sehr wohl möglich ist - Jahrzehnte vorher hätte man nämlich dem Tier die Schuld gegeben und es getötet.

Es gibt auch alle möglichen technische Innovationen, die bei den Simpsons vorkommen, Jahre bevor sie tatsächlich auf dem Markt landen. So erfindet Homers Halbbruder Herbert in einer Folge von 1992 ein Gerät, mit dessen Hilfe man die Laute von Babys in gesprochene Sprache "übersetzen" kann - dieser Baby-Dolmetscher verhilft Herbert wieder zu dem Reichtum, den er zuvor durch Homers Schuld verloren hat. 2009 kam tatsächlich ein Baby-Übersetzer auf den Markt - den Cry Translator, der damals als ein Gerät, das an ein Babyphon erinnerte, später auch in Form einer App erhältlich war. Ein Gadget, das das eigene Einfühlungsvermögen überflüssig machen sollte - und in seiner Ausführung sowieso eher fragwürdig war. Entsprechend war dem Unternehmen wohl auch nicht der erhoffte Erfolg beschieden - zumindest ist die Website der Firma heute nicht mehr erreichbar. Abgesehen davon scheint auch niemand wirklich daran geglaubt zu haben, weshalb das Ding wohl eher als lustiges Spielzeug gewertet werden kann denn als eine ernstzunehmende Arbeitserleichterung.
In einer Episode aus dem Jahr 1995 wird Lisa die Zukunft vorausgesagt - damals das Jahr 2010. Diese Folge enthält ebenfalls Dinge, die es später tatsächlich geben sollte - etwa eine Armbanduhr, mit der man wie mit einem Handy kommunizieren kann oder auch die Möglichkeit, via Bildschirm in Echtzeit zu telefonieren. Ich muss euch enttäuschen - auch das zeugt nicht von hellseherischen Fähigkeiten. Jene technische Innovation, die heute als "Smartwatch" bekannt ist, kam schon vorher in mehreren Filmen und Serien vor - in der Serie Knight Rider aus den 1980ern kommunizierte etwa Michael Knight alias David Hasselhoff über eine Art Armbanduhr mit seinem sprechenden, selbst fahrenden Auto K.I.T.T., und Beispiele für Videotelefonie kamen schon in den frühen James-Bond-Filmen aus den 1960er Jahren vor.

Wie ihr seht, werden nicht nur bei den Simpsons, sondern auch in anderen Serien oder auch Filmen manche Ideen und Ereignisse vorweggenommen. Bei den Simpsons summiert sich das allerdings, was vor allem daran liegt, dass bisher keine Serie so langlebig war wie diese. Es gibt technologische, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Entwicklungen, die man mit ausreichend Intelligenz schon Jahre oder gar Jahrzehnte vorausahnen kann - und wenn eine Serie so lange läuft, ist es nicht ungewöhnlich, dass sich manche Prognosen mitunter tatsächlich erfüllen. Oder wie Simpsons-Drehbuchautor Al Jean es formulierte: "Wenn du genug Vorhersagen machst, stellen sich 10 % als wahr heraus." Es ist eben so, wie wir es häufig beobachten und ich in meinem Blog auch schon gezeigt habe: Die Rezipienten interpretieren in ein Werk häufig weit mehr hinein als dessen Schöpfer, und ihre Vergleiche wirken bei näherer Betrachtung oftmals an den Haaren herbeigezogen. Und am Ende stellt sich heraus, dass alles viel simpler - und leider auch langweiliger - ist. Abgesehen davon hatten die Simpsons in ihrer langen Laufbahn nicht ausschließlich Treffer, wenn es um das Vorausahnen der Zukunft ging - Hologramm-TV, Dolmetscher für Hunde oder fliegende Autos gibt es bis heute nicht. Ganz abgesehen davon, dass ich schon anhand der ersten Beispiele erklärt habe, dass viele "Vorhersagen" auch manipuliert sind, indem man Videos und Screenshots so bearbeitet hat, dass sie auf bestimmte Ereignisse zutreffen. Ansonsten haben die Autoren der Serie, was nicht unüblich ist, wohl die Gabe, das Weltgeschehen zu interpretieren und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Als Beispiel: Ich habe bereits im März vermutet, dass Donald Trump in diesem Jahr nicht mehr Präsident sein wird. Das habe ich allerdings nicht meinen hellseherischen Fähigkeiten zu verdanken, sondern dem Umstand, dass ich wusste, wie es um das amerikanische Gesundheitssystem bestellt ist. Also genauso nichts Besonderes. Schade - sonst wäre ich bereits reich.

Ja, leider, ich kann euch auch nicht vorhersagen, was dieses gerade erst angebrochene Jahr uns bringen wird. Aber auch wenn man sich noch lange nicht in Sicherheit wiegen kann - und ein Jahreswechsel, wie schon gesagt, in erster Linie eine Änderung des Datums ist - sollten wir doch nicht so schnell den Mut verlieren. Wir dürfen nicht vergessen - schlimmer geht immer! Und solange das öffentliche Leben noch nicht in vollem Umfang wieder aufgenommen werden kann, müssen wir eben versuchen, die Zeit anderweitig zu nutzen. Bon voyage!

vousvoyez

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