Montag, 14. September 2020

Das Gegenteil von Leergut ist Vollschlecht

Wir wissen ja auch, dass so einiges voll schlecht läuft im Moment - aber zumindest geht es uns gut genug, um uns über Kleinigkeiten aufzuregen, zumal die Schattenseiten der EU aktuell noch immer auf der griechischen Insel Lesbos zu finden sind, so dass unsere satte Gesellschaft sie einfach ausblenden kann. Zumindest jetzt noch - aber ewig wird das nicht so weitergehen können.

Ich habe ja kürzlich darüber geschrieben, dass der allgemeine Konsens, dass Rechtsextremismus und Faschismus nichts Positives sind, heute nicht mehr vorherrscht. Häufig wird auch damit abgelenkt, dass Linksextremismus ja angeblich genauso schlimm ist, oder man heult, weil irgendjemand die Nazi-Keule auspackt, selbst wenn das eigentlich gar nicht der Fall ist. Nun - ich finde den inflationären Gebrauch des Wortes "Nazi" auch unangebracht, schon allein deshalb, weil er das Wort verharmlost. Andererseits frage ich mich, was man erwartet, wenn man Leuten, die eine solche Gesinnung vertreten, nach dem Mund redet, weil "man das ja wohl noch mal sagen wird dürfen". Frei nach dem altbekannten chinesischen Spruch: Wir leben in interessanten Zeiten. Der amerikanische Traum wird zum Alptraum, während der europäische Traum verbrennt.

Nun, so naiv, zu glauben, dass der nationalsozialistische Gedanke mit dem Ende der Nazidiktatur vollständig verschwunden ist, ist wohl keiner. Der Nationalsozialismus starb 1945, aber die Ideen sind nicht untergegangen und leben bis heute weiter. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich erfolgte nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Entnazifizierung, doch im Gegensatz zu unserem Nachbarland haben wir erst sehr viel später mit der ideologischen Aufarbeitung begonnen. Bei uns suhlte man sich sehr lange in der Opferrolle, indem man so tat, als sei man von den sehr bösen Deutschen dazu gezwungen worden, sich an den NS-Verbrechen zu beteiligen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Altnazis bei uns so schnell wieder in hohe politische Positionen aufsteigen konnten und es auch an den Universitäten noch lange nach 1945 rechtsextreme Tendenzen gab. 1949 wurden Sympathisanten und Funktionsträger des österreichischen NS-Regimes im Verband der Unabhängigen (VdU) zusammengefasst, aus dessen Zersplitterung 1956 die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) hervorging.

In den 1970ern wurden die Altnazis allmählich von den Nachgeborenen abgelöst, die keine eigenen Erfahrungen mit der NS-Diktatur gemacht haben, sondern die Ansichten der vorangegangenen Generation kritiklos nachplapperten, so wie das heute fast ausschließlich der Fall ist, dabei aber damals schon gewaltbereiter waren als ihre Altvorderen. Natürlich beschränkt sich die rechtsradikale Szene aber nicht nur auf den deutschsprachigen Raum - auch in anderen europäischen Ländern sowie in den USA gibt es dieselben Ideen, und das nicht erst seit gestern. Auch das neuerliche Erstarken der rechtsradikalen Szene in den 1980ern kam ursprünglich aus dem Ausland - nämlich aus England, wo Ende der 1960er Jahre in einem Londoner Arbeiterviertel die Skinhead-Bewegung entstand, deren Anhänger, wie ich in meinem Artikel über Jugendkulturen erklärt habe, bei weitem nicht alle rechtsradikal sind. Ursprünglich entstand diese Bewegung aus Protest gegen soziale Missstände; ihre Anhänger verstanden sich als anti-bürgerlich, waren aber ansonsten nicht politisch. Dies änderte sich allmählich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, als sich im Zuge der Punk-Bewegung ein Musikstil entwickelte, der "Oi!" genannt wurde und zu einem Revival der Skinhead-Kultur führte. Im Zuge dessen spaltete sich die Szene in links- und rechtsradikale Strömungen auf, wobei die rechtsextreme Seite begann, einen immer größeren Teil zu vereinnahmen. So verbreitete sich die Skinhead-Bewegung auch in den USA und Kontinental-Europa, wo auch zunehmend Neonazis, die bisher nichts mit der Skinhead-Kultur zu tun gehabt hatten, anfingen, deren Look zu übernehmen. So kommt es, dass Glatzen, Armeestiefel und Bomberjacken bis heute überwiegend mit Rechtsradikalismus assoziiert werden.

Als wegweisend für den rechtsextremen Flügel der Skinhead-Bewegung gilt heute die britische Band Skrewdriver, die gleichzeitig als Vorreiter des Rechtsrock gesehen werden, der die für Jugendliche wenig attraktive Marschmusik, die zuvor innerhalb der rechtsextremen Szene favorisiert worden war, allmählich ablöste. Der Frontmann der Gruppe, Ian Stuart Donaldson, gründete in den 1980er Jahren das internationale rechtsextreme Netzwerk "Blood and Honour", ein Name, der direkt von einem NS-Film über die Hitlerjugend mit dem Titel Blut und Ehre übernommen worden sein soll. Entsprechend sahen auch die Ziele dieser Organisation aus, die sich vor allem darauf fokussierte, junge Leute für die Bewegung zu rekrutieren, ein Bestreben, das vor allem über den musikalischen Weg erlangt werden sollte - weshalb Blood and Honour sich auch größtenteils auf Musikveranstaltungen und den Vertrieb fokussierte. Auch darüber hinaus nutzte er ein Konzept, das bis heute bei Rechten sehr beliebt ist - nämlich die Verknüpfung harmloser Inhalte wie Musik, Tanz, Kochen oder Reisen mit nationalen Ideologien. Bis zu seinem Unfalltod 1993 war Donaldson die prägende Figur der rechtsextremen Bewegung.

In den frühen Achtzigern erreichte die Skinhead-Subkultur den deutschsprachigen Raum - und auch hier bildeten sich bald rechtsradikale Tendenzen heraus und stellten die Weichen für namhafte Rechtsrock-Bands wie Landser, Noie Werte, Störkraft oder die Zillertaler Türkenjäger, die harte Klänge mit aggressiven, explizit fremdenfeindlichen Inhalten verknüpften. Die Texte richteten sich gegen Staatsorgane, Linke und Ausländer, riefen zum "Widerstand" gegen diese auf und verherrlichten die NS-Vergangenheit. Bei uns in Österreich gab es parallel dazu auch einen politischen Umbruch nach rechts; nachdem Parteiobmann Norbert Steger versucht hatte, die FPÖ von ihrem fragwürdigen Image zu befreien, wurde er 1986 von Jörg Haider abgelöst, der das vorwegnahm, was heute bei vielen Rechten bereits gang und gäbe ist: Er inszenierte sich als "Rebell" gegen das "Establishment" bzw. die "Altparteien". Zudem wurde der Ruf unseres Landes durch die Waldheim-Affäre belastet - eine internationale Debatte, in der es darum ging, ob der 1986 bis 1992 amtierende österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim aktiv an NS-Verbrechen beteiligt war. Doch nicht nur bei uns, auch in anderen Ländern führten gesellschaftliche und politische Umbrüche zu einem Auftrieb des Rechtsradikalismus - sozialer Wandel, technologische Modernisierung, geringes Wirtschaftswachstum, hohe Massenarbeitslosigkeit, Reduktion der Sozialausgaben, politische und soziale Umwälzungen in Osteuropa, Migrationsbewegungen, mehr Asylanträge, dazu der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten durch wirtschaftliche und politische Globalisierung brachten nicht nur das Beste in den Menschen hervor. Deutlich wurde dies Anfang der 1990er im Zuge der Wiedervereinigung: Schon ein Jahrzehnt zuvor hattem sich etwa in der DDR rechtsextreme Protestbewegungen formiert, die der wachsenden Unzufriedenheit mit den Arbeits- und Lebensbedingungen verschuldet waren. Da öffentlicher Protest in einem Polizeistaat große Risikobereitschaft voraussetzt, zeichneten sich ihre Anhänger durch enorme Gewaltbereitschaft und Brutalität aus. Im Zuge des Falls der Berliner Mauer breitete sich der Neonazismus auch vermehrt im Westen aus - dass das nicht heißt, dass alle Ostdeutschen Nazis sind, denn auch dort handelt es sich vor allem um eine sehr laute Minderheit.

Zwischen 1991 und 1994 kam es in Deutschland zu einem Anschwellen rassistischer Gewalt, während sich in Österreich Briefbomben-Anschläge gegen Menschen, die als Vertreter einer liberalen und ausländerfreundlichen Politik angesehen wurden, häuften - die sich allerdings als Taten des rechtsradikalen Einzeltäters Franz Fuchs herausstellten. Unter Jörg Haider wurde die FPÖ bis Ende der Neunziger außerdem zu einer der stimmenstärksten Parteien, und auch im Osten Deutschlands erkannten Rechtsparteien ein attraktives Rekrutierungsfeld. Auch der Rechtsrock radikalisierte sich Anfang der Neunziger - dem anfangs eher verhaltenen Rassismus wichen nun Vernichtungsphantasien und die Verherrlichung oder Leugnung des Holocausts. Es waren offene Tabubrüche, weshalb ich überzeugt davon bin, dass der Reiz für Jugendliche vor allem darin lag - vor allem, da mir aufgefallen ist, dass viele dieser kleinen Möchtegern-Nazis gar nicht so richtig kapiert haben, was sie da eigentlich unterstützen. In den 1950er Jahren schockierte der Rock'n'Roll durch die explizite Sexualität in seinen Texten - vierzig Jahre später tat der Rechtsrock dasselbe mit der Verherrlichung rassistischer Gewalt.

Dies blieb allerdings auch nicht ungestraft: Viele der Lieder und Alben landeten damals auf dem Index, diverse Bands und Musiker mussten sich vor Gericht zu Vorwürfen der Volksverhetzung, Verbreitung rechtsextremer Propaganda und ähnlichen Anklagen verantworten. Im Jahr 2000 wurde das Netzwerk Blood and Honour in Deutschland verboten, weshalb die offiziellen Strukturen zerschlagen wurden und rechtsextreme Musiker noch stärker in den Fokus des Verfassungsschutzes gerieten. Dies führte dazu, dass rechtsextreme Strukturen allmählich anfingen, aus ihren Fehlern zu lernen - die hetzerischen Texte der Vergangenheit wichen moderateren Tönen, dafür griff die deutsche NPD Donaldsons Strategie, die Jugend durch Musik für rechtsextreme Werte zu gewinnen, wieder auf und verteilte zwischen 2004 und 2011 kostenlose "Wahlkampf-CDs" in den Pausenhöfen deutscher Schulen, bis diese bundesweit beschlagnahmt wurden.

Den neuerlichen Siegeszug rechtsextremer Musik machte jedoch vor allem das Internet möglich - Strukturen wie bei Blood and Honour konnten online weitaus schneller und effektiver aufgebaut werden. So wurde das Internet innerhalb kürzester Zeit die neue Schaltzentrale und das wichtigste Propaganda-Instrument rechtsextremer Gruppierungen, das nicht nur über Musik, sondern auch über Merchandise - etwa Kleidung mit kodierten Logos - funktioniert. Neben dem Verkauf von Tonträgern und Streams erfreuten sich auch Musikfestivals bei Neonazis immer größerer Beliebtheit, wobei diese heutzutage größtenteils auf Privatgrundstücken veranstaltet werden, was den Zugriff der Behörden erschwert, und häufig als "politische Veranstaltungen" angemeldet werden, um mehr Gestaltungsspielraum zu haben, da die Musik häufig von politischen Vorträgen und "Aufklärungsarbeit" begleitet wird.

Dem Rechtsrock ging es aber zunehmend wie einst der Marschmusik - allmählich schwand das Interesse der Jugend an den angestaubten Genres, und die Szene erkannte, dass sie mit Glatzen, Springerstiefeln, nordischen Symbolen und offenem Hass nur bis zu einem gewissen Punkt kam. Und so begannen Rechtsextreme im letzten Jahrzehnt, neue musikalische Wege zu beschreiten und sich gleichzeitig immer mehr der gesellschaftlichen Mitte anzunähern. Die Inhalte - Ausländer und Linke als Feindbild, die sozialdarwinistische Ablehnung von Minderheiten, Relativierung oder gar Leugnung der Verbrechen der NS-Zeit - blieben gleich, ebenso wie die Ziele - Schaffung eines ethnisch homogenen Nationalstaates, in dem weder Juden noch Personen mit Migrationshintergund Platz haben. Sie erschienen jedoch in einem neuen Gewand, wodurch die Grenzen des Sagbaren im letzten Jahrzehnt immer mehr verschoben wurden. Auch die Musiker haben inzwischen ein neues Genre für sich entdeckt, und das ist ironischerweise Hip-Hop und Deutschrap. Neben der Zweckentfremdung schwarzer Musik und der sukzessiven Verunsicherung der gesellschaftlichen Mitte wurde es auch optisch immer schwerer, Rechtsextreme von anderen zu unterscheiden. So bezeichnet sich die junge Fraktion der Identitären Bewegung gerne als "Nipster", eine Fusion aus "Nazi" und "Hipster", und ist äußerlich von Letzteren nicht mehr zu unterscheiden. Ähnlich verhält es sich etwa auch mit Bewegungen wie der Anastasia-Bewegung, die an die Hippies der 1960er Jahre erinnert, jedoch einer zutiefst rassistischen Ideologie entspringt.

Als Pionier des rechtsextremen Rap wird MaKss Damage aus Gütersloh gesehen, der sich 2011 öffentlich als Neonazi outete und dessen Texte durch antisemitische, nationalistische und teilweise auch verschwörungsideologische Inhalte auffielen. Nachdem rechter Rap in seiner Anfangsphase ebenso explizit war wie Rechtsrock, schlägt die neue Generation nach dem Vorbild der Identitären aber bewusst gemäßigtere Töne an, um stärker in den Mainstream vorzudringen. So sind ihre Texte ebenso offen rechtsextrem, enthalten jedoch keine strafrechtlich relevanten Aussagen mehr. Die heute prägende Figur dieses Genres ist Chris Ares, der sich als Teil der "Kulturrevolution von rechts" begreift und seit 2016 vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird.

Was vor allem nicht zu unterschätzen ist, ist die Infiltrierung sozialer Netzwerke durch rechtsextremes Gedankengut. Das Ergebnis wird uns aktuell immer wieder vor Augen geführt: Man scheint vergessen zu haben, dass es kein Verdienst ist, weiß und privilegiert zu sein, weshalb viele heute der Ansicht sind, dass Menschen, die im Mittelmeer ertrinken und in Griechenland wie der letzte Dreck behandelt werden, kein Mitleid verdient hätten - die werden schon selbst schuld sein, dass sie in diese Lage geraten sind, und wenn man denen hilft, kommen immer noch mehr, bis die "weiße Rasse" irgendwann ausgestorben ist. (Ich hoffe, der Sarkasmus war ersichtlich.) Aktuell unternehmen Online-Anbieter wie YouTube oder Facebook halbherzige Versuche, der Flut an Hassbotschaften Herr zu werden und sperren nach und nach die offiziellen Kanäle der patriotischen Bewegung. auch Spotify, Amazon und iTunes reagieren vermehrt auf den öffentlichen Druck und entfernen Musik mit rechtsextremen Inhalten aus ihrem Angebot. Viele Rechtsgestrickte weichen inzwischen auf die russische Social-Media-Plattform VK oder auf den Messenger-Dienst Telegram aus - Letzterer hat sich inzwischen als Lieblings-Marketing-Kanal rechtsextremer Bewegungen etabliert.

Nun, was mich betrifft, ich finde es höchst bedenklich, dass man so lange damit gewartet hat, Rechtsextremismus als das zu erkennen, was es ist, nämlich als eine Gefahr für eine demokratische Gesellschaft. Und deswegen mein Appell an euch: Denkt erst einmal nach, bevor ihr einen Post teilt; widersprecht jenen, die gegen Ausländer und Minderheiten hetzen; bewahrt euch euren gesunden Menschenverstand und vor allem: Lasst euch nicht von irgendwelchen Leuten beeinflussen, die euch einreden wollen, sie seien keine Nazis, dabei aber Äußerungen tätigen, die eindeutig hetzerisch sind. Und vergesst vor allem nicht: Die demokratische Freiheit ist etwas, das immer wieder neu erkämpft werden muss!

vousvoyez

https://www.volksverpetzer.de/hintergrund/rechtsextreme-musik/

https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/198940/zur-entwicklung-des-rechtsextremismus-in-deutschland

Hier noch ein anderer Artikel von mir zum Thema rechte Influencer:

https://weisheitderwoche.blogspot.com/2020/07/ich-kann-hellsehen-im-dunkeln-sehe-ich.html

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