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Zugegeben, diese Weisheit hätte eigentlich zum vorigen Artikel gepasst - weil das, wovon er handelt, geradezu exemplarisch dafür ist. Aber der Vorteil dessen, dass ich mich schon das letzte Mal über die Gestalten auf der Berliner Demo ausgekotzt habe (und das, was ich eigentlich schreiben will, noch sehr viel reifliche Überlegung und auch Recherchearbeit bedarf) ist, dass ich mich jetzt wieder mal den schönen Dingen des Lebens widmen kann. Und deswegen möchte ich damit fortfahren, die Hintergründe der als "Klassiker" bezeichneten Disney-Filme unter die Lupe zu nehmen. Wie schon beim letzten Mal, so möchte ich mich auch heute den Romanverfilmungen widmen, die in charmante und bis heute sehr beliebte Zeichentrickversionen umgesetzt wurden.
Alice im Wunderland von Clyde Geronimi, Wilfred Jackson und Hamilton Luske kam im Jahr 1951 in die Kinos und ist eine Adaption zweier Werke der Kinderliteratur, die bis heute zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehören und die ich schon sehr, sehr viele Male sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch gelesen habe - wobei ich vor allem die Originalversion bevorzuge mit ihrer verdrehten Logik und den Nonsens-Reimen, die einerseits in perfektem Englisch verfasst sind, andererseits über eine so erstaunliche Musikalität aufweisen, dass sie eigentlich gar keine Melodien benötigen (will you, won't you, will you, won't you, will you join the dance?). Trotzdem verlinke ich euch hier eine ganz entzückende Vertonung der zuvor zitierten Lobster Quadrille. Die Bücher selbst wurden von dem britischen Schriftsteller Lewis Caroll verfasst, der außerdem auch noch Fotograf, Mathematiker und Diakon war. Seine Bücher zeugen von einer außergewöhnlichen Begabung im Bereich von Wortspiel, Logik und Phantasie - und so hat er mit seinen Werken viele andere Autoren wie James Joyce und André Breton, aber auch bildende Künstler wie Max Ernst bis hin zu zahlreichen Musikern aus dem Rock- und Pop-Genre beeinflusst. Etwas wenigeren Leuten ist bekannt, dass er auch ein Vorreiter im Bereich der künstlerischen Fotografie war; sein bekanntestes Motiv war Alice Liddell, die kleine Tochter des Dekans von Christ Church Henry George Liddell, die gleichzeitig auch das Vorbild für die Heldin von Carrolls Büchern wurde.
Alice's Adventures in Wonderland (Alice im Wunderland) wurde 1865 veröffentlicht und entstand während einer Bootsfahrt auf der Themse, auf der Carroll der zuvor erwähnten Alice Liddell und ihren beiden älteren Schwestern diese Geschichte erzählt haben soll. Zu den ersten Fans dieses Werks gehörten unter anderem Königin Victoria und der junge Oscar Wilde (der übrigens ebenfalls zu meinen Lieblingsschriftstellern gehört). 1871 erschien die Fortsetzung Through The Looking Glass, And What Alice Found There (Alice hinter den Spiegeln) - der Disney-Film fasst die Handlung beider Bücher zusammen, ebenso wie viele andere Adaptionen. Verweise auf die Alice-Bücher finden sich auch in vielen anderen literarischen Werken, etwa Douglas Adams' Per Anhalter durch die Galaxis oder Stephen Kings Tot, aber auch in filmischen Werken, man denke nur an "follow the white rabbit" aus Matrix - wobei dieser Satz heutzutage gern für Verschwörungsmärchen missbraucht wird. Auch in der Musik finden sich viele Verweise auf Alice, etwa bei den Beatles, Aerosmith oder Gwen Stefani, und in der Malerei ließen sich vor allem die Surrealisten von den Büchern inspirieren. Es gibt auch noch Adaptionen für Oper und Ballett sowie als Comics und Mangas, außerdem hat das anderorts schon erwähnte japanische Trickfilmstudio Nippon Animation in den Jahren 1983/84 eine Fernsehserie produziert. Die erste Filmadaption ist ein Stummfilm von Cecil Hepworth aus dem Jahre 1903; die Disney-Version ist die erste Zeichentrickverfilmung. 2010 und 2016 entstanden außerdem Realfilm-Adaptionen der beiden Bücher aus dem Hause Disney unter der Regie von Tim Burton (Alice in Wonderland) und James Bobin (Alice Through The Looking Glass), unter anderem mit Helena Bonham Carter, Johnny Depp und Anne Hathaway.
Die Bücher handeln von einem etwa siebenjährigen Mädchen namens Alice, das sich in beiden Geschichten in eine Welt verirrt, in der sämtliche Gesetze der Logik und Vernunft auf den Kopf gestellt worden sind. In Alice im Wunderland läuft sie einem sprechenden weißen Kaninchen hinterher, erreicht seinen Bau, wo sie in ein tiefes Loch fällt und in einem Raum mit vielen Türen landet, von denen sich nur die kleinste öffnen lässt. Alice ist zu groß, um hindurchzupassen, findet aber ein Fläschchen mit einem Getränk, das sie schrumpfen lässt. Als sie am Ende die Tür passiert hat, findet sie sich in einem Wunderland voller Paradoxa und Absurditäten wieder, in dem sie auf viele merkwürdige Geschöpfe trifft und ständig mit allerlei Nahrungsmitteln und Getränken herumexperimentiert, die sie größer und kleiner machen. In Alice hinter den Spiegeln geht sie durch einen gewöhnlichen Spiegel auf die andre Seite in eine Parallelwelt, in der nicht nur alles spiegelverkehrt, sondern die gesamte Logik auf den Kopf gestellt ist. Während im ersten Buch Spielkarten eine Rolle spielen, sind es im zweiten ein Schachspiel und Schachfiguren. Die Rahmenhandlung des Disney-Films entspricht dem ersten Buch - Alice läuft dem weißen Kaninchen hinterher und fällt ins Innere der Erde -, ansonsten werden, wie schon gesagt, Motive aus beiden Büchern aufgegriffen. So stammen die Grinsekatze, die Raupe, Märzhase und verrückter Hutmacher sowie die Herzkönigin aus Alice im Wunderland, während Twiddledee und Twiddledum, das Walross und der Zimmermann und die sprechenden Blumen Motive aus Alice hinter den Spiegeln sind.
Bemerkenswert an den Büchern sind neben dem Spiel mit der Logik, die diese auch zu beliebten Erzählungen für Mathematiker machen, auch die satirischen Anspielungen - beispielsweise gibt es viele Verweise auf die Schullektionen, die Kinder damals in England auswendig lernen mussten, etwa der Kinderreim von Löwe und Einhorn, der im zweiten Buch thematisiert wird und in dem der Zusammenschluss Englands und Schottlands im frühen 17. Jahrhundert thematisiert wird. Der Disney-Film ist heute ein Klassiker, fiel damals beim Publikum allerdings durch, und auch Disney selbst soll damit nicht zufrieden gewesen sein - ich persönlich finde zwar, dass er an die Bücher nicht heranreicht, allerdings bin ich auch der Ansicht, dass man ihm Unrecht tut. Man orientierte sich halt nicht an den Original-Illustrationen von Sir John Tenniel, sondern interpretierte die Figuren etwas freier, aber so entstand ein eigenständiges Werk, das auch nach fast siebzig Jahren nichts von seinem Zauber verloren hat und doch mit einigen unvergesslichen Momenten aufwarten kann.
Der zweite Film, dem ich mich heute widmen will, ist Peter Pan, ebenfalls unter der Regie von Geronimi, Jackson und Luske, der 1953 in die Kinos kam und auf einigen Kindergeschichten des schottischen Schriftstellers und Dramatikers James Matthew Barrie basiert. Es ist die Geschichte eines Jungen, der nie erwachsen wird, der im Neverland, zu deutsch "Nimmerland", eine Jungengruppe, The Lost Boys (dt. "verlorene Jungen") anführt und gegen den Piratenkapitän Captain Hook kämpft. Die Figur Peter Pan taucht erstmals 1902 in dem ursprünglich für Erwachsene geschriebenen Buch The Little White Bird (Kleiner weißer Vogel) auf und wurde 1904 in dem sehr erfolgreichen, in London uraufgeführten Bühnenstück Peter Pan, The Boy Who Wouldn't Grow Up (Peter Pan, der Junge, der nie erwachsen wurde) verwendet. 1906 wurde der Abschnitt aus Little White Bird als eigenständiges Buch Peter Pan in Kensington Gardens publiziert, 1911 wurde das Bühnenstück unter dem Titel Peter and Wendy als Erzählung in Buchform herausgebracht - Letztere wird für Peter-Pan-Adaptionen am häufigsten verwendet.
Peter Pan wird meist als Junge im Alter von elf bis dreizehn Jahren dargestellt, da die körperlichen Anforderungen für jüngere Kinder meist zu hoch sind - das ist auch der Grund, warum er auf der Bühne eher von jungen Frauen gespielt wird. Er verkörpert die Unschuld, Sorglosigkeit und Abenteuerlust der Kindheit, ohne Verständnis für echte Gefahren oder echtes Leid. Anders als andere Kinder verlässt er diese Erfahrungswelt nicht, da er nicht erwachsen wird und sich nicht verändert. Dieser Aspekt macht ihn in der Psychoanalyse zur Allegorie für die Weigerung, erwachsen zu werden, Reife zu erlangen und das Voranschreiten der Zeit zu akzeptieren, eine Problematik, die entsprechend auch als "Peter-Pan-Syndrom" bezeichnet wird. Die fiktive Insel Nimmerland wiederum kann als Metapher für ewige Kindheit und Jugend, aber auch für Unsterblichkeit und Eskapismus gesehen werden, eine Phantasiewelt, die außer von Kindern von Elfen, Meerjungfrauen, Indianern und Piraten bevölkert wird. Trotz gewisser Aspekte, die der Entstehungszeit zuzurechnen sind, ist die Peter-Pan-Geschichte zeitlos und bietet Identifikationsmöglichkeiten für Kinder aus aller Welt. Manche Interpretationen begreifen das Nimmerland jedoch auch als ein Totenreich und Peter Pan als Todesengel, der verstorbene Kinder dorthin abholt.
Auch im Disney-Film wird die Handlung der Geschichte Peter and Wendy erzählt: Peter Pan verirrt sich in das Haus der Londoner Familie Darling und wird von deren Hund Nana erwischt, die ihm den Schatten abbeißt. In der folgenden Nacht, als die Eltern ausgehen und Nana im Hof angebunden wird, kehrt Peter in Begleitung der kleinen, geflügelten Fee Tinkerbell (im Deutschen auch "Glöckchen" oder "Naseweis" genannt) zurück, um seinen Schatten wieder zu bekommen, und lernt so Wendy, die Tochter der Darlings, kennen, der er anbietet, ihn ins Nimmerland zu begleiten, wo Kinder nie erwachsen werden. Nachdem sie und ihre beiden jüngeren Brüder John (in der deutschen Disney-Version Klaus genannt) und Michael mit Feenstaub bestäubt wurden, können sie wie Peter fliegen und folgen ihm auf die Insel, die sie bereits aus ihren Träumen und Spielen kennen. Sie wohnen mit Peter im unterirdischen Haus der verlorenen Jungs, für die Wendy die Mutterrolle übernimmt, und erleben alle möglichen Abenteuer mit Meerjungfrauen, Indianern und Piraten, bis Wendy und ihre Brüder Heimweh bekommen. Ehe sie Nimmerland verlassen können, werden sie und die verlorenen Jungen jedoch von Peters größtem Widersacher, dem Piratenkapitän Captain Hook, verschleppt. Natürlich gelingt es Peter, sie zu befreien und Hook über Bord zu werfen, der von dem Krokodil gefressen wird, das einmal eine Uhr verschluckt und ihm einst die Hand abgebissen hat. Am Ende werden Wendy, John und Michael wieder nach Hause gebracht; im Original werden die verlorenen Jungen von den Darlings adoptiert, während Peter wieder nach Hause fliegt, und Tinkerbell verliert ihr Leben, als sie Gift zu sich nimmt, das Hook eigentlich für Peter bestimmt hat. Außerdem enthält das Ende des Romans auch eine Zwiespältigkeit: Peters Kindheit kann nur bewahrt werden, wenn er alles Vergängliche vergisst, wie wichtig es auch immer ihm einmal gewesen sein mag. Als er Wendy ein Jahr später wiedersieht, kann er sich weder an Captain Hook noch an Tinkerbell erinnern, und irgendwann vergisst er auch Wendy, bis deren Tochter ihren Platz einnimmt.
Der Disney-Film sollte ursprünglich weitaus düsterer werden - so war ursprünglich geplant, dass die Fee Tinkerbell im Laufe der Geschichte wie im Roman sterben sollte, allerdings statt durch Gift durch eine Bombe - am Ende wurde aus Rücksicht auf das jüngere Publikum allerdings darauf verzichtet. Insgesamt war es die zweite Verfilmung des Peter-Pan-Stoffs nach einem Stummfilm von Herbert Brenon aus dem Jahr 1924, der sehr erfolgreich war und stark an die Bühnenversion angelehnt ist. Im Gegensatz dazu bot die Zeichentrick-Version natürlich ganz neue Möglichkeiten; so trat Peter Pan zum ersten Mal als männliche Person in Erscheinung, während er bisher sowohl auf der Bühne als auch in Brenons Film immer von jungen Frauen dargestellt worden war. Außerdem nahmen der Hund Nana, das Krokodil und Tinkerbell zum ersten Mal Gestalt an, nachdem Nana bisher durch einen Komparsen bewegt, das Krokodil durch ein Ticken hinter der Szene und die Fee durch Lichtwechsel dargestellt worden waren. Insgesamt war Peter Pan einer der erfolgreichsten Disney-Filme und ist bis heute einer der wenigen, die in der Erstsynchronisation auf DVD erhältlich sind, auch wenn die Tonqualität dadurch natürlich nicht den heutigen Standards entspricht. Gleichzeitig ist er die einzige bekannte Filmadaption, in der, abgesehen von einer Szene, keine Dialoge aus dem Bühnenstück verwendet wurden. Bis heute entstanden noch viele andere Real- und Zeichentrickverfilmungen, ich erinnere mich auch an die Nippon-Animation-Version von 1989. 2003 kam die erste Realfilm-Version heraus, in der kein Erwachsener, sondern ein Junge die Hauptrolle übernahm. Natürlich gibt es inzwischen auch eine computeranimierte Serie, erwähnenswert finde ich außerdem Steven Spielbergs Hook von 1991, eine Fortsetzung der bekannten Geschichte, in der Robin Williams den erwachsenen Peter Pan verkörpert, und Marc Fosters Finding Neverland (Wenn Träume fliegen lernen) von 2004, der sich mit der Entstehungsgeschichte befasst und in der Johnny Depp den Autoren J. M. Barrie spielt.
Wie in meinem letzten Artikel über die Disney-Filme musste ich mich auch in diesem wegen des umfangreichen Stoffs auf zwei Filme beschränken. Und natürlich musste ich mich arg zurückhalten, um nicht meterlang meine Gedanken über die Alice-Bücher niederzuschreiben und so diesen Eintrag zu einer unleserlichen "Wurscht" zu verunstalten. Aber dafür habe ich noch eine Menge Material für weitere Artikel und hoffe natürlich, dass ihr dann wieder dabei seid. Bis dahin verabschiede ich mich von euch und hoffe, dass ihr alle gesund bleibt und eure Masken nicht vergesst! Bon voyage!
vousvoyez
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