Der 11. September 2001 war für diejenigen, die diese Zeit bewusst miterlebt haben, eine Art Zäsur - zuvor hatte man irgendwie das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten unantastbar sind, aber was damals geschah, hat uns eines Besseren belehrt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die USA so eine Art Sehnsuchtsort für viele junge Leute - und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg für die ältere Generation der Inbegriff des Sittenverfalls. Ich finde es etwas lustig, dass es inzwischen umgekehrt zu sein scheint. Die Popkultur hat, wie ich bereits in meinem letzten Artikel erläutert habe, nach wie vor einen großen Einfluss. Und doch ist vieles, womit die Bevölkerung sich identifiziert, nicht so, wie es zu sein scheint - etwa die US Constitution, die amerikanische Verfassung, die von reichen weißen Männern geschrieben wurde und nicht, wie allgemein angenommen, allen amerikanischen Bürgern die gleichen Rechte sichern sollte, sondern lediglich dazu gedacht war, die Vorherrschaft dieser reichen weißen Männer zu sichern. Wer mehr dazu erfahren will, dem empfehle ich ein sehr interessantes Video, schön mit Quellen ausgestattet (und wir wissen ja, wie wichtig Quellen sind, nicht wahr?), die es einem ermöglichen, sich noch weiter mit der Thematik zu befassen.
Natürlich wissen all diejenigen, die sich nicht "Kritiker" schimpfen, schon längst, dass die USA aktuell einen Präsidenten haben, dessen Narzissmus ihm eigentlich jede Qualifikation nimmt, so viel Verantwortung zu tragen. Natürlich werden mir jetzt all diejenigen, die ihn für den tollsten Mann der Welt halten, empört widersprechen. Mein Rat: Lasst es einfach. Ich kenne diesen Mist schon zur Genüge. Aber okay, ich bin nicht hier, um endlos darüber zu lamentieren. Ich bin hier, um über eines der größten Probleme in diesem Land zu sprechen - ein Problem, das auch bei uns existiert und von dem ich weiß, dass so manche es nicht mehr hören wollen, aber ehrlich gesagt ist mir das im Moment ziemlich egal. Solange es existiert, muss darüber geredet werden, ob wir wollen oder nicht.
Ja, wir müssen uns wieder mal über Rassismus unterhalten - und der Grund liegt auf der Hand: Letzte Woche ist ein weiterer Mensch diesem zum Opfer gefallen. Ein weiteres Leben wurde ausgelöscht, weil derjenige, dem es gehörte, die falsche Hautfarbe hatte. Und diesmal hat die ganze Welt es gesehen - und wer versucht, diese Tatsache auch nur irgendwie zu relativieren, der lügt sich in die eigene Tasche. Und es spielt auch überhaupt keine Rolle, ob George Floyd etwas getan haben soll, was zu dieser Festnahme führte - so etwas ist in keinem Fall zu rechtfertigen. Und selbst wenn es die zweite Autopsie nicht gegeben hätte - wer sich minutenlang auf den Hals eines anderen Menschen kniet, nimmt dessen Tod zumindest billigend in Kauf. Offen gestanden bin ich nicht die einzige, die schon längere Zeit damit gerechnet hat, dass die Situation irgendwann einmal eskalieren wird. Schon zu Beginn der Corona-Krise hatte ich Gespräche darüber, dass diese die USA mit Sicherheit besonders hart treffen wird, nachdem deren ach so toller Präsident seiner Bevölkerung vor nicht allzu langer Zeit die Möglichkeit auf kostenlose medizinische Versorgung genommen hat. Und das hat sich auch ziemlich bald bestätigt. Der Mord an einem weiteren US-Bürger Schwarzer Hautfarbe durch die Hand eines Polizisten war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Aber er zeigt eben auch, dass ein Feiertag für Martin Luther King nicht ausreicht, um den Rassismus gegen die Schwarze US-Bevölkerung aus der Welt zu schaffen.
Bereits die Ankunft von Menschen mit Schwarzer Hautfarbe auf dem amerikanischen Kontinent war ein Akt der Gewalt, denn bekanntlich besteht der größte Teil der heute lebenden Afroamerikaner aus Nachfahren afrikanischer Sklaven, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert dorthin verschleppt wurden, um auf den Plantagen der damaligen europäischen Kolonien zu arbeiten. Das gesetzliche Verbot der Sklaverei, das zuerst in den Nordstaaten der USA und durch den Sezessionskrieg auch in den Südstaaten erfolgte, beseitigte jedoch weder den Rassismus noch die Benachteiligung von Afroamerikanern - die heute so genannten Jim-Crow-Gesetze legitimierten die Racial Segregation, die Rassentrennung, die natürlich nur für Weiße von Vorteil war. Im Zuge der "Großen Migration", der Abwanderung Schwarzer Amerikaner aus den ländlichen Südstaaten in die Industriestädte des Nordens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, formierte sich das Civil Rights Movement, die Bürgerechtsbewegung, die die Gleichberechtigung von Afroamerikanern forderte und durch den Bus-Boykott von Montgomery 1955/56, die Folge der Festnahme von Rosa Parks, einer Schwarzen, die sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus einem Weißen zu überlassen, internationale Aufmerksamkeit erlangte und so in den fünfziger und sechziger Jahre zu ihrem Höhepunkt kam. Während deren Ziele unter dem Baptistenpfarrer Martin Luther King jr. noch durch gewaltfreien Widerstand und zivilen Ungehorsam durchgesetzt wurden, führte die zunehmende Gewalt gegen Bürgerrechtler ab Mitte der Sechziger und die Ermordung Kings 1968 allmählich zu einer Radikalisierung und zur Erstarkung der Black-Power-Bewegung unter Stokley Carmichael, Malcolm X und der Black Panther Party, die wesentlich gewaltbereiter war. Die Bürgerrechtsbewegung führte zwar zu einem Wachstum der Schwarzen Mittelschicht, verbesserte die Lebensbedingungen der armen Mehrheit jedoch nicht. Daran konnte auch der erste Schwarze US-Präsident Barack Obama nichts ändern. Der Tod von George Floyd war nicht der erste Mord an einem Afroamerikaner durch die Staatsgewalt. Und es war auch nicht das erste Mal, dass die Anklage der Mörder erst nach zahlreichen Protesten und auch dann sehr zögerlich erfolgte. Und ich möchte eines klar stellen: Ich heiße die gewalttätigen Ausschreitungen nicht gut. Ich möchte mich in aller Form von jenen distanzieren, die den Namen George Floyd dazu missbrauchen, auf den Straßen zu randalieren und das Chaos auszunutzen, um zu plündern und zu brandschatzen. Und ich erkenne an, dass Polizisten in einem Land, in dem praktisch jeder mit einer Schusswaffe herumlaufen darf, manchmal härtere Geschütze auffahren müssen - das gilt aber nicht für jene, die auf Journalisten, friedliche Demonstranten oder gar unbeteiligte Passanten schießen. Ebenso erkenne ich auch an, dass es auf der anderen Seite etliche Cops gibt, die sich auf die Seite der Demonstranten gestellt haben und ebenfalls ein Ende der Gewalt gegen Schwarze fordern. Das Ding ist halt, wie schon gesagt, folgendes: Es war klar, dass die Situation irgendwann einmal eskaliert, zumal all die friedlichen Proteste der Vergangenheit gegen Waffengewalt absolut nichts gebracht haben. Zumal dieses Land aktuell einen Präsidenten hat, der die Situation immer nur noch schlimmer macht, der die USA seit seinem Amtseintritt immer mehr spaltet und seine eigene Bevölkerung jetzt sogar mit Waffengewalt bedroht, ein Vorgehen, das schon diktatorische Züge annimmt. Und während Schwarze nach wie vor unter Vorurteilen leiden, die teilweise völlig absurd sind, während viele von ihnen größtenteils wegen Lappalien oder gar unschuldig im Knast landen, während People of Colour sich nach wie vor mit schlechterer Bildung, schlechterer medizinischer Versorgung, schlechteren Jobs und einem niedrigeren Einkommen begnügen müssen, empört man sich hierzulande über brennende Autos und eingeschlagene Fensterscheiben. Und mittlerweile sprechen die üblichen Verdächtigen davon, dass Video sei von "der Antifa" "inszeniert" worden.
Nun hat bei uns Weißen nicht nur in den USA, sondern auch hier in Europa und in anderen Teilen der Welt spätestens seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts formal ein Umdenken stattgefunden - die allermeisten von uns wissen, dass Rassismus nichts Gutes ist, und kaum jemand möchte ein Rassist sein. Dennoch sind rassistische Stereotype nicht überwunden, auch wenn sie viele meiner weißen Mitmenschen gar nicht verstehen oder für übertrieben halten - viel schlimmer finde ich aber jene, die versuchen, das Problem absichtlich klein zu reden. Das sind dann meist die, die behaupten, Rassismus existiere nur, wenn man darüber rede, oder die einem Rassismus vorwerfen, wenn man über Rassismus spricht, denn menschliche Rassen existieren ja nicht. Nun, es stimmt, dass die pseudowissenschaftliche Rassentheorie mit ihrer hierarchischen Zuordnung, der zufolge die weiße Rasse ganz oben und die schwarze ganz unten rangiere und die zahlreiche entsetzliche Grausamkeiten gegen Schwarze Menschen legitimierte, längst überholt ist, da die äußeren phänotypischen Merkmale von nur sehr wenigen Genen verursacht werden und die Hautfarbe ohnehin einem sehr hohen Selektionsdruck unterliegt. Doch dass es innerhalb bestimmter ideologischen Tendenzen immer noch üblich ist, die Wertigkeit eines Menschen an der Hautfarbe zu messen, kann man damit nicht wegerklären. Rassismus zu benennen bedeutet also nicht, Menschen von sich aus verschiedenen "Rassen" zuzuordnen, sondern eine Ideologie zu benennen, die genau dies tut. Natürlich meinen nicht alle Menschen, die versichern, dass für sie nicht die Hautfarbe, sondern der Mensch zähle, es böse - im Gegenteil, sie wollen versichern, dass sie ihr Gegenüber unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit respektieren. Das Problem ist allerdings - solche Argumentationen beseitigen Rassismus nicht, sondern sie verhindern die Auseinandersetzung mit diesem. Ähnlich ist es, den Hastag BlackLivesMatter zu okkupieren, der Solidarität mit Opfern von Rassismus ausdrücken soll, und mit AllLivesMatter zu beantworten. Vorgeblich, um zu versichern, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Hautfarbe wichtig ist. In Wirklichkeit lenkt man jedoch nur von dem ab, was hier passiert ist. Noch schlimmer, man versucht, diejenigen, die das Problem beim Namen nennen, mundtot zu machen, ob mit Absicht oder nicht. Man kann ja auch nicht auf einer Krebs-Tagung herumlaufen und erklären, dass es auch noch andere Krankheiten gibt. Wenn ein Haus brennt, bespritzt die Feuerwehr doch auch nicht alle Häuser im Viertel, weil alle Häuser zählen. Wer auf diese Weise relativiert, spielt nur den Rassisten in die Hände - denn deren Intention ist es, alle Strukturen, die unterdrücken, für diejenigen unsichtbar zu machen, die davon nicht betroffen sind. Nicht-weiße Menschen können sich aber nicht aussuchen, ob ihre Hautfarbe zählt oder nicht - durch Kategorisierung von außen sind sie viel mehr als wir dazu genötigt, sich mit ihrer ethnischen Herkunft auseinanderzusetzen. Wenn wir Ungerechtigkeiten nicht zulassen wollen, müssen wir sie sichtbar machen.
Und jetzt noch mal was in eigener Sache: Mir wird nicht selten unterstellt, mein Interesse daran, gegen Rassismus zu kämpfen, hänge ausschließlich damit zusammen, dass mein Freund aus Afrika stammt. Nun, ich habe mich schon mit Rassismus auseinandergesetzt, als ich meinen Freund noch gar nicht kannte - ich habe schon als Zehnjährige meine Eltern darauf hingewiesen, dass Schwarze das N-Wort nicht schätzen und man es sich lieber abgewöhnen sollte, wenn man sie mit Respekt behandeln will. Aber ich gebe durchaus zu, dass ich nicht in einer Gesellschaft leben will, die den Mann, den ich liebe, aufgrund seines Äußeren schlechter behandelt als mich und ja, das passiert in manchen Bereichen durchaus. Ich werde öfter als andere mit seinem Aussehen und seiner Herkunft konfrontiert, als wenn er ein weißer Europäer wäre, und das ist nicht immer so angenehm. Weil ich in der einen oder anderen Form immer das Gefühl habe, dass meine Beziehung nicht der "Norm" entspricht, obwohl sie eigentlich gar nicht so anders ist als die anderer Paare.
Rassismus fängt nicht da an, wo ein Mensch aufgrund seiner Hautfarbe von einem anderen Menschen getötet wird. Rassismus fängt im Kleinen an und ist uns häufig gar nicht bewusst - wenn wir der Herkunft eines anderen zu viel Bedeutung beimessen, weil er anders aussieht. Wenn wir einem Menschen mit anderer Hautfarbe vorschreiben wollen, wann er sich beleidigt zu fühlen hat und wann nicht. Wenn wir nicht anerkennen wollen, dass es im Kampf gegen Rassismus nicht um uns geht. Wenn wir glauben, die Sexualisierung von Personen anderer ethnischer Herkunft sei ein Kompliment. Wenn wir an veralteten Strukturen festhalten, weil sie ja früher auch niemanden gestört haben. Wir sind erwachsen genug, um anzuerkennen, dass jeder Fehler macht - es ist nicht schlimm, wenn ihr euch in dem, was ich zuvor aufgezählt habe, wiederfindet, aber es ist schlimm, wenn ihr nichts daraus lernen wollt.
Und es ist wichtig, dass ihr eines begreift: Es geht nicht um Schuld, es geht um Verantwortung. Was passiert ist, kann man nicht mehr ändern - aber man kann dazu beitragen, dass die Zukunft ein kleines bisschen besser wird. Bon voyage!
vousvoyez
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