Montag, 21. Januar 2019

Ihr müsst euch dran gewöhnen, dass ich der Boss hier bin

Als ich 21 Jahre alt war, war ich das letzte Mal am Weißensee - erst acht Jahre später sollte ich wieder mal zurückkehren. Aber so wie früher wurde es natürlich nie wieder.
Ich habe in dieser Zeit viele tolle Freunde kennen gelernt. Mit manchen von ihnen habe ich bis heute noch Kontakt. Viele habe ich regelmäßig dort getroffen. Manche von ihnen haben dort gearbeitet, hauptsächlich natürlich in der Gastronomie.
Damals, als ich 21 war, verbrachten wir eine Nacht in Villach, wo gerade der alljährliche Kirchtag stattfand. Wir waren bis Mitternacht auf dem Stadtfest, dann schlugen wir uns den Rest der Nacht in einer Havanna-Bar um die Ohren und gingen anschließend in ein Wettcafé am Bahnhof. Anschließend wollten wir mit dem Zug weiterfahren. In einem Korridor auf dem Bahnhof trafen wir einen uralten, schrullig aussehenden Mann; seine spiegelnde Glatze war von einem schneeweißen, wirr vom Kopf abstehenden Haarkranz umgeben, er trug ein viel zu großes Hemd, und seine Hose wurde von Hosenträgern an ihrem Platz knapp unter der Brust gehalten. Als er uns bemerkte, sah er uns an und sagte nur einen Satz: "Ihr müsst euch dran gewöhnen, dass ich der Boss hier bin." Überflüssig zu erwähnen, dass dies bei der Zugfahrt Thema Nummer eins war.

Das ist jetzt schon fast vierzehn Jahre her; mein Leben ist anders geworden, und diese Welt ebenfalls. Was natürlich nicht verwunderlich ist. Selbstverständlich habe ich inzwischen auch andere Leute um mich herum, auch wenn ich meine alten Freunde von damals immer noch regelmäßig sehe. Als ich 21 war, hatte mein Bruder zwei kleine Kinder, die inzwischen schon Teenager sind; für meinen Neffen beginnt schon bald ein neuer Lebensabschnitt, denn seine Schulzeit ist in diesem Sommer zu Ende. Und da auch meine Schwester inzwischen Mutter von Zwillingen ist, deren Volksschulzeit bald vorbei ist, nehme ich dies zum Anlass, um einmal über die Schule zu sprechen.

Zumindest aus der Schülerperspektive ist natürlich jeder dazu in der Lage, sich eine Meinung über dieses Thema zu bilden. Ich bekomme aus der Eltern-Perspektive auch so einiges mit, und ich habe auch ehemalige Klassenkameraden, die inzwischen ebenfalls Lehrer sind. Eine von ihnen unterrichtet sogar an der Schule, an der wir alle unseren Abschluss gemacht haben. In unserem Maturajahr hat man uns davor gewarnt, Lehrer zu werden, da es damals in diesem Beruf nicht leicht war, einen Job zu finden. Heute sind Lehrer sehr gefragt, und keiner, der sich entgegen der Empfehlungen doch zu diesem Beruf entschieden hat, steht ohne Job da. Aber unsere Schule war ohnehin nicht immer sehr zukunftsorientiert. Ich habe allerdings gehört, dass sie sich seit damals enorm verbessert hat. Was mich allerdings bis heute stört, ist diese Tendenz, junge Menschen erst einmal zu demotivieren - egal zu welcher Generation man gehört, immer bekommt man zu hören, dass man nach dem Abschluss ohnehin keinen Job finden wird. Und gerade in den Berufen, von denen einem in der Vergangenheit abgeraten wurde, fehlen einem jetzt die Leute.

Seit ich denken kann, versucht man schon, unser Schulsystem zu reformieren - ist aber bisher nicht wirklich weggekommen vom preußischen Schulmodell des 19. Jahrhunderts, das weniger auf Verstehen und Hinterfragen setzt als darauf, Inhalte auswendig runterzubeten (mit dem Resultat, dass das Gelernte oft nicht verstanden und ziemlich bald wieder vergessen wird).

Jetzt wird ja darüber diskutiert, gewisse Änderungen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, wieder rückgängig zu machen; die Rede ist von Leistungsgruppen, Sitzenbleiben und Noten von der ersten Volksschulklasse an. Das hatten wir ja eigentlich schon - und gerade mit diesem System waren viele nicht zufrieden. Ähnlich läuft es mit der Diskussion über separate Deutschklassen für Migrantenkinder - und Kürzungen beim Unterricht in Muttersprachen. Ich muss sagen, diejenigen, die irgendwann einmal nach Österreich immigriert sind und sehr gut Deutsch sprechen, sind die, die von Anfang an viel Kontakt mit Österreichern hatten. Die, die sich hauptsächlich in den Kreisen bewegten, in denen ihre Muttersprache gesprochen wurde, tun sich bis heute schwer. Parallel dazu ist es wissenschaftlich nachgewiesen, dass Kinder eine Fremdsprache leichter lernen, wenn sie die eigene Muttersprache gut beherrschen. Es wird ja auch immer gepredigt, dass Kinder möglichst früh mehrere Sprachen lernen sollen - aber offenbar gilt das nur für Englisch, Französisch, Spanisch und eben Deutsch - nicht aber für Türkisch, Kurdisch und Arabisch. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass man solche Erschwernisse absichtlich herbeiführt, um dann sagen zu können, dass die Ausländer eh alle kriminell sind - anders kann ich mir einfach nicht erklären, warum es besser sein soll, Asylwerber wegzusperren und ihnen jegliche Möglichkeit zu nehmen, sich nur irgendwie sinnvoll zu betätigen und wenn, dann nur unter erschwerten Bedingungen.

Natürlich will man endlich mit der "Kuschelpädagogik" aufräumen und unsere Kinder möglichst früh zu leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft machen. Ähnlich, wie man früher Babys das natürliche Bedürfnis nach Nähe verwehrt hat, weil Schreien ja so gut für die Lungen ist - und sie so zu traumatisierten Erwachsenen herangezogen hat. Weil es ja so viel effektiver ist, Kindern möglichst früh die Freude am Lernen auszutreiben, ihre Talente zu missachten und sie mit Angst in die Schule gehen zu lassen. Aber ich bin halt leider einer dieser unverbesserlichen, linksgrünversifften Gutmenschen, die behaupten, dass es in einer Schule eigentlich in erster Linie um die Schüler gehen sollte und  nicht um die Politiker, und dass sie dementsprechend nicht Zweiteren, sondern Ersteren nützen sollte. Und die denkt, dass es wichtiger sein sollte, Inhalte zu lernen, weil man sie verstehen will, und nicht, damit man einen Zettel bekommt, auf dem steht, dass man gelernt hat. Aber so denken natürlich nur linksfaschistische Bahnhofsklatscher, die überhaupt kein Interesse an den eigenen Leuten haben. Aber gut, da ist vielleicht auch ein bisschen der Sarkasmus mit mir durchgegangen.

Ich muss ganz ehrlich sagen, ich ging tatsächlich nicht besonders gern in die Schule - wie bei vielen, so gab es auch bei mir Fächer, in denen ich gut war, und Fächer, in denen ich Probleme hatte. Und es gab halt auch Fächer, die mich eigentlich interessierten, was sich jedoch änderte durch die Art und Weise, wie mir deren Inhalte vermittelt wurden. Ich kann verstehen, dass man damit zurechtkommen muss, dass man nicht immer nur das machen kann, was einem Spaß macht - aber man kann das Lernen auch erleichtern und in Schülern möglicherweise das Interesse wecken für Inhalte, die ihnen bis dato ziemlich egal waren. Ich habe einmal gehört, dass Einstein bei aller Genialität kein besonders guter Lehrer war - das kann ich nachvollziehen, zumal es nicht er war, der dazu imstande war, mein früher eher geringes Interesse für Physik zu wecken, sondern Bill Bryson und Stephen Hawking. (Und weil ich natürlich fleißig The Big Bang Theory geschaut habe.) Ich denke, das liegt vor allem daran: In einem Fach besonders gut zu sein, heißt nicht, dass man auch ein guter Lehrer ist - denn für den Beruf des Lehrers braucht man ganz andere Kompetenzen. Ich habe das besonders im Gymnasium oft erlebt - da gab es viele Lehrer, die eigentlich etwas ganz anderes machen wollten, dies aus irgendeinem Grund nicht geschafft hatten und dann in den Lehrberuf gewechselt sind, zumal dies damals noch ein sicherer Beamtenposten auf Lebenszeit war. Viele von ihnen waren in ihren jeweiligen Disziplinen ganz gut, als Pädagogen aber denkbar ungeeignet. Vor diesem Hintergrund finde ich es ganz gut, dass man heutzutage ein eigenes Lehramtsstudium absolvieren muss. Ich glaube, dass das auch mit ein Grund ist, warum sich viele Schulen so verbessert haben.

Der britische Pädagoge Dylan Willam erklärt, dass der Lehrende selbst immer weiterlernen soll, um die Perspektive des Lernenden nicht zu verlassen. Das finde ich insofern sinnvoll, da man ja sein ganzes Leben lang dazulernt und gerade heute auf Weiterbildung so viel Wert gelegt wird. Darüber hinaus habe ich ja auch angesprochen, dass in unserem Schulsystem Auswendiglernen immer noch weitaus wichtiger ist als Verstehen - und im Prinzip ist auch in der Pisa-Studie eher das Auswendiglernen gefragt. Das ist auch vor dem Hintergrund interessant, dass an vielen Koranschulen oft bemängelt wird, dass die Schüler die Suren des Korans oft auf Arabisch auswendig lernen, ohne sie zu verstehen und ohne überhaupt die Sprache zu können - aber so viel besser sind wir ja auch nicht. So haben zum Beispiel chemische und mathematische Formeln auch nicht allzu viel mit der deutschen Sprache zu tun - trotzdem ist es wichtiger, dass man die auswendig kann, als dass man sie versteht. Methoden, die ja eigentlich schon beinahe diktatorisch sind, wenn man so drüber nachdenkt - wobei ich dem Schulsystem jetzt nicht unterstelle, diktatorisch sein zu wollen. Das kommt wohl eher daher, dass es in einem eher autokratischen Kontext entstanden ist - und ich glaube, es wird auch viel zu wenig darüber nachgedacht, zumal sich ja bisher kaum jemand einig war. Und es gibt ja auch tatsächlich engagierte Lehrer, die versuchen, davon wegzukommen. Nur hängt das eben noch immer viel zu viel vom Lehrer ab und viel zu wenig davon, wie ein Lehrplan tatsächlich aufgebaut ist.

Ich muss ganz ehrlich sagen, an vielen Fächern habe ich tatsächlich das Interesse verloren, weil es viel zu viel darum ging, irgendetwas auswendig zu lernen, beispielsweise in Geschichte, wo es nur um irgendwelche Namen und Jahreszahlen ging. Das lernte man halt zweimal pro Halbjahr auswendig, wurde dann abgefragt und vergaß es hinterher wieder. In der Oberstufe war ich schon so weit, dass ich mich trotzdem dafür interessieren konnte, weil ich schon reifer war und mir selbst etwas aus den Inhalten raushalten konnte, aber in der Unterstufe war das schon ziemlich entmutigend. Zumal man, wenn man jünger ist, ja tatsächlich nicht begreift, dass einem das Lernen etwas nützt, auch wenn man vielleicht nicht alles auf das spätere Leben anwenden kann.
Ich habe letztens etwas recht Aufschlussreiches gehört - nämlich, dass man die Qualität eines Lehrers nicht an den stärkeren, sondern an den schwächeren Schülern messen sollte. Und dass es in diesem Lichte eigentlich paradox ist, dass man die besseren Schüler in Schulen schickt, in denen man auch die besseren Lehrer erwartet, und dann im Umkehrschluss niedrige bis überhaupt keine Erwartungen an Lehrer hat, die beispielsweise in einer Hauptschule oder einer Polytechnischen Schule unterrichten. Eine weitere Möglichkeit, um junge Menschen so früh wie möglich zu selektieren und diejenigen, die es "nur" in die Hauptschule geschafft haben, von vorn herein als den letzten Dreck abzustempeln. Dann kann man demjenigen eigentlich auch gleich ins Gesicht sagen, dass er sich vom Leben am besten gar nichts mehr erwarten soll - und das, obwohl es sehr wohl Leute gibt, die etwas erreicht haben, obwohl sie nie im Gymnasium waren, während es gleichzeitig auch Obdachlose mit Doktortitel gibt. Wobei diese Geringschätzung von Hauptschülern in der Stadt mit Sicherheit ausgeprägter ist als auf dem Land. Generell sollte das Ziel aber doch sein, so vielen Leuten wie möglich etwas beizubringen und nicht, denjenigen etwas beizubringen, die das sowieso schon können, oder?

Zum Schluss möchte ich noch etwas loswerden, das häufig zu kurz kommt, wenn man die Mängel unseres Schulsystems aufzählt: Ich habe inzwischen Leute aus vielen verschiedenen Ländern und mit komplett unterschiedlichen Hintergründen kennen gelernt. Deswegen habe ich allmählich begriffen, was für ein Glück es für mich war, in die Schule gehen und lernen zu dürfen - weil das immer noch viel zu vielen Menschen auf dieser Welt nicht vergönnt ist. Und dass ich durchaus auch viele gute Lehrer hatte, die mir auch wirklich was beibringen konnten. Ich denke, daran sollten wir alle ab und zu denken, wenn wir dabei sind, über die Schule und/oder die Lehrer herzuziehen - egal, ob wir recht haben oder nicht.

vousvoyez

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