Tja, momentan ist ja die Zeit der Ersatzreligionen - zumindest seit der Jugendrevolte der 1960er Jahre, aber heutzutage wird es immer mehr, zumal man ja durch das Internet auch leichter Zugang zu unterschiedlichen Weltanschauungen hat. Was Vor- und Nachteile bringt. Zeitweise sind es ja, wie ich schon angemerkt habe, gerade ganz alltägliche Dinge, die zu einer Religion werden können - Ernährung, Kindererziehung, Tierhaltung oder Sport.
Zurzeit kursiert im Netz das Foto einer Schaufensterpuppe aus einem Nike-Store in der Oxford Street in London. Das Besondere an dieser Puppe - sie ist dick. Womit sie natürlich neben den dünnen, athletisch gebauten Modellen, die vorführen, wie Größe XS aussieht, heraussticht. Neben der Plus-Size-Puppe sind auch Modelle mit Handicap ausgestellt - der Hersteller erklärt, dass damit Diversität im Sport gezeigt werden soll, der ja nicht nur von schlanken, athletischen, gesunden Menschen ausgeübt werden darf oder soll.
Jetzt hat die britische Journalistin Tanya Gold, die für die Zeitung The Telegraph schreibt, aber wohl was dagegen. Ich konnte den Original-Artikel leider nicht lesen, da ich keine Lust habe, den Telegraph nur wegen eines einzigen Artikels kostenpflichtig zu abonnieren. Auf Twitter schreibt sie, dass diese Puppe ein "schrecklicher Zynismus" seitens der Hersteller sei - eine Person dieser Gewichtsklasse könne gar nicht laufen, sie sei wahrscheinlich auf dem besten Weg zu Diabetes und einer Hüftprothese. Sie erklärt, dass man durch mollige Puppen suggeriere, Übergewicht sei okay - mit einem Wort, man verbreite eine "gefährliche Lüge". Natürlich gehen die Wogen jetzt hoch - vor allem Frauen, die selbst Übergewicht haben, fühlen sich angegriffen.
Nun ja - dass eine zu starke Abweichung von der Norm, ob im oberen oder unteren Bereich, nicht gesund ist, wissen wir ja alle. Ebenso, wie wir wissen, dass Übergewicht in den satten Industrienationen immer mehr zum Problem wird. Als ich 17 Jahre alt war, war ich für zwei Wochen in Florida. Einer der auffälligsten Eindrücke, wenn man damals als Europäer in den USA war, waren die vielen extrem übergewichtigen Menschen - Erwachsene und Kinder. Eine meiner "Weisheiten" war ja der selbst erfundene Amerikaner-Witz, der eigentlich gar nicht witzig war und der das Übergewichts-Problem der amerikanischen Bevölkerung aufs Korn nahm. Besonders in Fast-Food-Restaurants hatten überdurchschnittlich viele Menschen - oft Kinder oder Jugendliche - extremes Übergewicht, in einem Ausmaß, wie man es damals in Europa noch gar nicht kannte.
Heute ist das anders geworden - auch hier in Europa gibt es immer mehr übergewichtige Menschen. Und ja, auch ich kenne dieses Problem. Auf der anderen Seite wird besonders uns Frauen schon seit Jahrzehnten eingeredet, wir müssten unbedingt schlank sein - um jeden Preis. Mit Dicksein geht häufig das Vorurteil einher, man sei faul, undiszipliniert und gierig. Schon in meiner Jugend dachte man bei Modenschauen oft an Brot für die Welt angesichts der dürren Gestalten, die da über den Laufsteg wankten. Bis heute fällt mir immer die Simpsons-Folge ein, in der ein Magermodel mit riesigen Augenringen über den Laufsteg geht und unsichtbar wird, als es sich zur Seite dreht. Oder Michael Mittermeier und sein erstes Programm Zapped, in dem er unter anderen über die berühmten Werbespots der Calvin-Klein-Parfumreihe Obsession spricht und erklärt, er denke beim Anblick der jungen Kate Moss eher an Brot für die Welt. In Zeiten von Photoshop wird auf Fotos auch noch oft nachgeholfen, damit ja keine "Problemzonen" sichtbar sind, und auch bei Germany's Next Topmodel ist Normal- oder gar Übergewicht eher weniger angesagt. Und natürlich gibt es da auch oberflächliche Internet-Formate wie Instagram, auf denen Influencer(innen) ihr vermeintlich perfektes Leben und auch ihre perfekten Körper zur Schau stellen. Was besonders sehr junge Frauen und Mädchen dazu veranlasst, zu hungern oder sich nach dem Essen zu übergeben - was im schlimmsten Fall zum Tod führt.
Auf der einen Seite wird besonders in den USA die Body-Positivity-Bewegung vorangetrieben, die besonders Frauen dazu veranlassen soll, sich so wohlzufühlen, wie sie sind - egal ob dick oder dünn. Andererseits gibt es da auch den Fitness-Hype, der viele in die Fitnessstudios treibt, um den schlanken, durchtrainierten Körper zu erhalten, der heutzutage so begehrt ist. Dort unterhält man sich dann, wie viele Kilometer man heute schon auf dem Fahrrad zurückgelegt hat, bei welchem Marathon man nächste Woche wieder mitläuft und wie sportlich man beim letzten Urlaub doch unterwegs war.
Nun ja. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen - wer in puncto Gewicht bzw. Figur etwas zu weit von der Norm abweicht, wird gerne kommentiert. Im Fall von Übergewicht wird einem besonders gerne nahegelegt, Sport zu machen. Was ja an sich vernünftig ist - der menschliche Körper ist nicht dazu da, immer nur im Büro zu sitzen oder auf der Couch vor dem Fernseher zu liegen. Und jeder weiß, dass zu einer gesunden Gewichtsreduktion ausreichend Bewegung einfach dazugehört. Es ist halt nur so - für Sport braucht man auch adäquate Kleidung. Das heißt, Kleidung, die nicht zu schlabberig, aber auch nicht zu beengend ist. Und ab einer gewissen Körperfülle ist es nicht mehr so einfach, etwas zu finden, das nicht zwickt, rutscht oder flattert. Dazu kommt auch noch, dass man nicht wirklich eine Vorstellung davon hat, wie man mit dieser Kleidung aussieht, weil die Puppen und Models, die sie vorführen, natürlich immer superschlank sind. In diesem Lichte sind Mrs. Golds Worte schon sehr fragwürdig - ganz abgesehen von der Behauptung, Dicke könnten nicht laufen. Was soll das aussagen - dass Dicke keinen Sport machen dürfen, während man ihnen doch ständig damit in den Ohren liegt, dass sie genau das tun sollen?
Sicher ist es nicht sehr zielführend, wenn man jetzt anfängt, so zu tun, als sei es wünschenswert, zu dick zu sein. Übergewicht ist ungesund und kann krank machen - das wissen wir alle. In dieser Hinsicht hat Frau Gold schon nicht unrecht; anstatt Schaufensterpuppen einfach etwas realistischer zu gestalten, schwankt man zwischen zwei Extremen, nämlich zu dünn oder zu dick. Wobei ich mich auch frage, warum sie kein Wort über die Size-Zero-Puppen zu verlieren scheint. Aber die dicke Puppe hat möglicherweise auch eine positive Wirkung auf Übergewichtige, die gerne Sport machen würden, sich aber nicht trauen, weil sie sich für ihren Körper schämen und ihn deswegen nicht zeigen wollen.
Wie zuvor schon erwähnt - heutzutage begegnet man Menschen, die zu dick oder zu dünn sind, gerne mit Vorurteilen. Sehr Dicke sind faul und verfressen, sehr Dünne sind zickig und essen nichts. Tatsache ist - egal wie ein Mensch aussieht, man kann von außen nicht beurteilen, warum er oder sie diesen und jenen Körper hat. Es gibt Menschen, die von klein auf mit Übergewicht zu kämpfen hatten, es gibt welche, die durch Medikamente oder gesundheitliche Probleme zu dick sind, und es gibt andere, die nicht zunehmen, obwohl sie ausreichend essen, oder die einfach nicht so viel essen können. Es gibt Menschen, die vom Körperbau her kräftiger sind und andere, sie eher zierlich sind. Die einen können auch mit noch so viel Hungern keine Modelmaße erreichen, die anderen werden nie besonders dick werden. Es gibt Menschen, die sehen am schönsten aus, wenn sie etwas mehr auf den Rippen haben, und andere, die sehen besser aus, wenn sie schlanker sind. Was wir brauchen, ist Vielfalt und keine Welt, in der alle total gleich aussehen. Nach dem Ideal von heute müssten alle Frauen dünn, blond, hellhäutig und langbeinig sein, mit kleiner Nase und langen Haaren. Wollen wir das wirklich? Zumal auch nicht alle Männer den gleichen Geschmack haben - und sich dieser mit dem Älterwerden auch ändern kann. Das gilt ja auch für Frauen - wenn man jung ist, sind die Kriterien eher oberflächlich, aber mit der Zeit passen sich die optischen Wünsche immer mehr den charakterlichen an, und vieles ist nicht mehr so wichtig. Wenn ich mir heute Dating-Shows ansehe, antworten Frauen auf die Frage, wie der Traummann aussehe, fast immer zuerst mit "Er soll größer sein als ich." Was im Gegensatz zu Mittermeier steht, der in seinem Programm Back to Life verwundert war, dass für Frauen der Humor eines Mannes am wichtigsten zu sein scheint, und die Frage in den Raum stellt, ob das Aussehen wirklich so egal ist, wie manche behaupten. Nun gut.
Dünne Menschen bemängeln oft, dass man mit ihrer äußerlichen Erscheinung weit weniger sensibel umgeht als mit der von Dicken. Ich kann das schon verstehen - es ist in keinem Fall besonders erhebend, wenn jeder seinen Senf dazugeben muss. Andererseits neigen die Leute aber eher dazu, zu glauben, nur Dicke müssten ihren Körper verstecken - ich habe eher selten gehört, dass jemand gesagt hat: "Sie sollte nicht so kurze Sachen tragen - da sieht man ja jeden Knochen!" Kritik an Übergewichtigen ist durchaus weniger offen als Kritik an Untergewichtigen - angenehm ist aber beides nicht. Wie schon gesagt - keiner weiß allein vom Hinsehen, warum eine Person dick oder dünn ist. Trotzdem ist man mit seiner Meinung zum Körpergewicht eines anderen oft sehr vorschnell - auch wenn man es im Grunde genommen nur gut meint. Aber häufig greift da auch der Dunning-Kruger-Effekt - selbst wenn das Aussehen einer Krankheit verschuldet ist. Zumindest, wenn sie psychisch ist. Wer von psychischen Erkrankungen keine Ahnung hat, stellt sich das Leben häufig sehr einfach vor - Depressive müssen einfach nur mehr lachen; Leute, die SVV betreiben, müssen einfach nur damit aufhören; Süchtige müssen einfach aufhören, ihre Suchtmittel zu konsumieren; Fettsüchtige müssen einfach nur weniger essen; Bulimiker müssen einfach nur aufhören zu kotzen; Magersüchtige müssen einfach nur anfangen zu essen. Ich möchte nur anmerken - wenn es so einfach wäre, dann gäbe es keine psychischen Erkrankungen. Denn dann könnte man einfach das tun, was ich zuvor angeführt habe, und schon wäre man wieder gesund. Das ist ungefähr so, als würde man jemandem, der Krebs hat, raten, er solle einfach aufhören, krank zu sein.
Was bleibt noch zu sagen? Nun - ich würde es durchaus nicht schlecht finden, wenn Models und Schaufensterpuppen etwas unterschiedlichere Figuren hätten. Wenn man den Menschen endlich mehr in seiner Vielfalt zeigen würde. Heutzutage gibt es so viele Models unterschiedlicher ethnischer Prägung - was ich toll finde. Wäre es nicht auch wünschenswert, wenn auf den Laufstegen nicht immer die gleiche, für die meisten Leute unrealistische Figur gezeigt würde? Ich erinnere mich daran, wie vor Jahren einmal Leggings für Männer gezeigt wurden. Ich muss sagen, attraktiv finde ich sowas nicht - aber in der Sendung, in der diese Hosen gezeigt wurden, sahen sie nicht so schlecht aus, wie man hätte meinen können. Allerdings waren die Männer, die sie vorführten, natürlich Models mit Idealmaßen. Bei einem durchschnittlichen Mann würden Leggings eher lächerlich aussehen - man braucht sich ja nur einen Durchschnittsmann in Radlerhosen ansehen. Ob Mode gut oder schlecht aussieht, hängt oft von der Person ab, die sie trägt - und da der Großteil der Menschheit keine Modelmaße hat, kann er sich wohl kaum mit denjenigen identifizieren, die die neueste Kollektion vorführen. Ganz allgemein würde ich es besser finden, wenn man einen Menschen dazu ermutigt, sich in dem Körper wohl zu fühlen, der ihm geschenkt wurde. Ich bin mit meinem Aussehen auch nicht vollauf zufrieden - da kann ich abnehmen, soviel ich will. Aber das ist eben menschlich - ich denke, es kommt vor allem darauf an, das Beste aus sich zu machen.
vousvoyez
https://www.stern.de/neon/wilde-welt/gesellschaft/nike-fuehrt-als-erster-hersteller-plus-size-schaufensterpuppen-ein-8750336.html
https://twitter.com/Telegraph/status/1137755030713458688
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