Donnerstag, 4. Oktober 2018

Wenn die Jazz Gitti im Fernsehen ist, kann die Welt ruhig untergehen

Ältere Leute haben ja manchmal Schwierigkeiten, mit dem Wandel der Zeit mitzuhalten - was ja auch normal ist. Und für meine Großmutter war die mollige Wiener Sängerin Jazz Gitti, die in den Achtzigern und Neunzigern sehr populär war, der Inbegriff der Volksverdummung. Wobei ich mir denke, es gab und gibt weitaus Schlimmeres - immerhin war ihre Sendung Tohuwabohu durchaus eine Bereicherung für die österreichische Fernsehlandschaft. Ich denke mir nicht, dass die Welt ruhig untergehen kann. Aber ich muss gestehen, dass ich manchmal an ihr verzweifle.

Vor einiger Zeit bekam ich ein amerikanisches Online-Video zugeschickt, das den Titel Save The Children trug. Darin wurden verzweifelt weinende und schreiende Kleinkinder von ihren Eltern gezwungen, Gemüse zu essen. Der Begleittext erklärte, dass Gemüse etwas ganz Widerliches sei und dass Kinder tagtäglich von ihren Eltern damit "gefoltert" würden. Das Ganze sollte witzig sein - und wurde mir auch so angepriesen. Nun bin ich ein Mensch, der guten Humor sehr zu schätzen weiß, aber ich fand weder das Video noch den Text dazu witzig. Mich machte das eher sauer.

Das erste, woran ich dachte, waren die Süßigkeiten-Werbespots, die es seit meiner Kindheit gibt und in denen Lebensmittel mit sehr viel Fett und Zucker als "gesund" angepriesen werden. Ich erinnerte mich speziell an einen Spot der Süßigkeitenmarke Nimm2, in dem eine Mutter darüber klagte, dass ihre Kinder sich weigern würden, Obst und Gemüse zu essen, begleitet von Aufnahmen, in denen gezeigt wurde, wie den Kindern ebendies angeboten wurde und sie sich angewidert abwandten. Zum Glück, erklärte die Mutter, gäbe es die Nimm2-Bonbons, durch die die Kinder ebenfalls ihre "wertvollen Vitamine" bekämen - plus einer Extra-Portion Zucker. Und dann an all die anderen Spots, die auch mich als Kind so beeindruckten - Kinder-Milchschnitte wurde mit "leicht und bekömmlich" als ideale Pausen-Mahlzeit für Schulkinder angepriesen, Kinder-Riegel enthielt die "Extra-Portion Milch", für die man "nie zu alt" sei, Fruchtzwerge waren "so wertvoll wie ein kleines Steak". Nicht zu vergessen jener legendäre Werbespot von etwa Mitte der Neunziger, in der die superschlanke Blondine ihrer etwas molligeren Freundin (die nicht wirklich mollig, sondern eher unvorteilhaft angezogen ist) beim Joggen erzählt, sie erhalte ihre Figur durch den Verzehr von Yogurette-Schokolade (ein Spot, den Michael Mittermeier ein paar Jahre später als "erste Bulimie-Werbung" bezeichnete). Und last but not least dürfen natürlich all die Fast-Food-Werbespots nicht fehlen, die, da Ehrlichkeit ja dem Geschäft schadet, von Models und Sportlern angepriesen werden.

Das zweite, was mir einfiel, war, dass mir eine Freundin einmal erzählte, sie möge kein Gemüse, weil ihre Eltern dies in ihrer Kindheit als Strafe eingesetzt hätten - sie habe es immer essen müssen, wenn sie schlimm gewesen sei. Gleichzeitig dachte ich an meinen Vater, der gerne rohes Gemüse aß, das er oft in kleine Stücke schnitt. Ich war ein richtiges "Papakind", und wenn ich sah, wie er Karotten, Tomaten oder Kohlrabi verzehrte, ging ich von selbst zu ihm und bekam dann auch was. Auch wenn Kinder eher für süße Lebensmittel zu haben sind und Gemüse eher bitter ist, gibt es doch Möglichkeiten, gesunde Ernährung auch schon in frühen Jahren attraktiv zu machen. Und ich erinnerte mich daran, als ich einst in Florida war und all die übergewichtigen Kinder bemerkte, die Imbissbuden wie McDonald's bevölkerten - und dass dieses Bild inzwischen auch hier in Europa bereits keine Seltenheit mehr ist.

Auf der anderen Seite wird uns von den Medien suggeriert, dass nur extreme Schlankheit als "schön" gelten kann - Frauen, die selbstbewusst ihre Kurven zeigen, werden da eher als außerhalb der Norm gehandhabt. Gleichzeitig ist man bei Formaten wie Germany's Next Topmodel dazu übergegangen, die Kandidatinnen mit fetthaltigen Lebensmitteln vor der Kamera hantieren zu lassen, um dem Vorwurf entgegenzuwirken, sie würden ihre Figur durch Hungern und Verzicht erhalten. Aber sind wir uns ehrlich - die meisten können diese unnatürliche Schlankheit nun mal nur mit eiserner Disziplin aufrecht erhalten, auch wenn ihnen teilweise auch ihr junges Alter entgegenkommt. Ich denke, man will mit dieser inszenierten Völlerei dem Vorwurf entgegenwirken, die Sendung fördere Essstörungen. Aber das große Fressen der Superdünnen täuscht eben nicht darüber hinweg, dass durchschnittlich gebaute Mädchen sich leicht minderwertig fühlen angesichts eines solchen Ideals - zumal selbst perfekt gebaute Models in Magazinen oft noch durch Photoshop noch perfekter gemacht werden.

Und während wir uns in den reichen, satten Ländern Sorgen um unsere Figur machen, verhungern Menschen in anderen Teilen der Welt, eine Tatsache, an der wir keineswegs unschuldig sind. Denn wir sind es, die jedes Jahr ein neues Smartphone haben müssen, wir sind es, die jeden Tag Fleisch essen wollen, wir sind es, die den Hals nicht vollkriegen, und wenn uns dies in Form von Flüchtlingsbooten vor Augen geführt wird, unterstellen wir deren Insassen Schmarotzertum und hätten am liebsten, dass sie mitsamt ihren Schlauchbooten absaufen würden, damit wir das Elend nicht sehen müssen, damit wir nicht zur Verantwortung gezogen werden, damit unsere Kinder weiterhin ihr widerliches Gemüse ausspucken können, ohne dass wir uns Gedanken um die Kinder anderer Leute machen müssen, für die ein solches Verhalten den Tod bedeuten könnte.

vousvoyez

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