Samstag, 6. Februar 2021

Der Hallo ist schon gestorben

@alanking
Ein Spruch, den ich schon seit meiner Kindheit kenne - wahlweise auch "der He ist schon gestorben". Der Gedanke dahinter ist, dass vor allem die ältere Generation Worte wie "hallo" und "he" als flapsig und unhöflich empfindet. Was das Wort "he" betrifft, so empfinde ich das tatsächlich selbst so - meine Reaktion ist dann allerdings eher "Ich heiße nicht He!" Was mich an einen Bekannten erinnert, der aus der DR Kongo stammt und bereits seit ein paar Jahrzehnten in Österreich lebt. In seiner Anfangszeit hier wurde er einmal von der Polizei aufgehalten; sie riefen ihm "Passport" zu, woraufhin er in durchaus verständlichem Deutsch antwortete: "Ich heiße nicht Passport!" Das mit dem Hallo und dem He ist übrigens ein Spruch, den ich noch von meinem Vater kenne - der, wenn er nach Hause kam, immer "Grüß Gott" sagte, selbst wenn er wusste, dass niemand da ist.

Gutes Benehmen ist ja bekanntlich bis zu einem gewissen Grad der Schlüssel zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Nun wissen wir ja, dass gutes Benehmen für viele Leute leider ein Fremdwort ist - wie wir ja auf Social Media tagtäglich sehen. Aber schlechtes Benehmen ist nicht nur für das Internet bezeichnend - es ist auch das, womit bei gewissen Fernsehsendern die besten Einschaltquoten erzielt werden. Allen voran natürlich der deutsche Privatsender RTL. Dieser Sender, der 1984 an den Start ging und im Prinzip ein Ableger des deutschsprachigen Radioprogramms Radio Luxemburg ist, generiert einen nicht unwesentlichen Teil seiner Quoten durch Skandale - und natürlich durch den bekannten Fremdscham-Effekt, der in uns aber gleichzeitig ein Gefühl der Überlegenheit hervorruft. Für vieles, was auf diesem Sender zu sehen ist, habe ich, ehrlich gesagt, die Nerven nicht. Gestern bin ich allerdings zufällig über ein Format gestolpert, das für mich die Bullshit-Grenzen heftig überstrapaziert. Und ja, vielleicht sollte ich darüber gar nicht schreiben - damit das Thema keine Aufmerksamkeit bekommt. Aber es tut mir leid, ich kann nicht anders - ich weiß nicht, wie ich sonst Dampf ablassen kann. Allerdings möchte ich eines anmerken: Ich bin, was Kinder und Hunde betrifft, absolut nicht "vom Fach" - betrachtet also das, was ich schreibe, als Meinung und vielleicht Denkanstoß, nicht jedoch als professionelle Einschätzung. Nun gut.

Die Rede ist von einer "Doku-Reihe" mit dem Titel Train Your Baby Like A Dog - und ja, das Wort ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt, denn Realitätsbezug hat diese Sendung keinen. Und schon allein der Titel ist maximal geschmacklos. Wie ihr euch sicher denken könnt, musste sich dieses Format schon vor der Erstausstrahlung eine Menge Kritik gefallen lassen - und das auch völlig zu Recht. Und dass schon der Titel so auffällig provokant ist, ist natürlich Absicht. Aber schauen wir uns den Sachverhalt trotzdem mal genauer an.

Nun, was ist das Konzept der Sendung? Im Prinzip hatten wir ein ähnliches Format nämlich schon einmal: und zwar mit der Reihe Die Super Nanny, die von 2004 bis 2011 auf RTL lief - einer von vielen Ablegern der gleichnamigen britischen Originalfassung (in Österreich gab es Die Super Nannys auf ATV). In diesem Format ging es mehr oder weniger um Erziehungsberatung - die Diplompädagogin Katharina Saalfrank besuchte Familien mit Kindern, die sich nicht so verhielten, wie die Eltern es gerne gehabt hätten, beobachtete die familiäre Interaktion und bot Hilfestellung in Form von Beratungsarbeit auf Basis von Systemtheorie und Sozialpädagogik. Schon diese Sendung stand einst heftig in der Kritik - nicht nur, weil sie suggerierte, dass es nur weniger Tage bedürfe, um komplexe Probleme zu lösen, sondern auch wegen einzelner Skandale. Eigentlich könnte man meinen, dass jedem klar sein sollte, dass eine Unterhaltungssendung, die mit Voyeurismus und Schadenfreude arbeitet, nichts mit seriöser Erziehungsarbeit zu tun hat - aber nachdem ich einmal ein Interview mit einer Scripted-Reality-Darstellerin gesehen habe, ist mir klar, dass ein nicht unwesentlicher Teil des RTL-Publikums das wirklich nicht versteht. Aber Frau Saalfrank ist zumindest "vom Fach" - und auch sie übte scharfe Kritik an Train Your Baby Like A Dog - das im Prinzip den gleichen Aufhänger nutzt, nämlich Krawall-Kids, die sich nonstop aufführen, als bräuchten sie keinen Pädagogen, sondern einen Exorzisten, und ihre überforderten, verzweifelten Eltern, die nicht verstehen, dass ein Kind keine Puppe ist, die nur macht, was sie wollen. Auch diese Kinder sollen zu braven Sonnenscheinchen umgemodelt werden - aber nicht durch eine Pädagogin, sondern durch eine Hundetrainerin.

Bitte was??? Ja, ganz recht - Aurea Verebes, die in dieser Sendung als "Retterin in der Not" auftritt, ist ausgebildete Hundetrainerin. Ihre Rechtfertigung, sich für ein solches Format herzugeben? Menschen sind ja im Prinzip, genauso wie Hunde, Säugetiere - und die Gehirne aller Säugetiere funktionieren gleich. Nun, eigentlich sollte einer ausgebildeten Hundetrainerin schon einmal aufgefallen sein, dass Hunde nicht sprechen können - zumindest  nicht so wie Menschen. Natürlich gibt es viele Parallelen zwischen den Gehirnen von Säugetieren - aber das bedeutet nicht, dass sie absolut gleich sind. Weiters hält sie eine professionelle Qualifikation für überschätzt - ihre "Expertise" liege darin, dass sie selbst Mutter sei, Kinderbücher geschrieben und wissenschaftliche Literatur übersetzt habe. Aber selbstverständlich operiert die gute Frau nicht alleine - "fachliches Backup" holt sie sich von Dr. Niko Hüllemann, seines Zeichens Kinder- und Jugendpsychotherapeut, dessen Einschätzungen dem Ganzen einen "seriösen" Anstrich geben sollen. Allerdings ist er nicht vor Ort, sondern berät Frau Verebes lediglich mittels Videocall - sprich, er lernt die Familien, die sie berät, nicht einmal persönlich kennen -, und so richtig überzeugt von der Methode wirkt er auch nicht. Sprich, im Prinzip fungiert er hauptsächlich als Ausrede, um das Format zu rechtfertigen.

Ein Hauptaugenmerk von Frau Verebes' Methode liegt auf dem Klickertraining, das nicht nur in der Hunde- sondern generell in der Tierausbildung nach dem Prinzip der operanten Konditionierung angewendet wird. Dies erfolgt eben mittels eines "Klickers", der meist aus einem Kunststoffgehäuse mit Knopf besteht, in das ein geprägter Stahlblechstreifen montiert ist, so dass beim Betätigen des Knopfes ein Klickgeräusch ertönt - ein Prinzip, das auch beim Knackfrosch zum Einsatz kommt, oder bei diesen Schraubdeckeln von Lebensmittelgläsern, wenn sie das erste Mal geöffnet werden. Angewendet wird der Klicker zur positiven Verstärkung - man betätigt den Klicker, wenn das Tier erwünschtes Verhalten zeigt, und gibt ihm gleichzeitig etwas zu fressen. Irgendwann reicht das Klickgeräusch aus, um dem Tier zu signalisieren, dass es erwünschtes Verhalten gezeigt hat. Dies hat zum einen den Vorteil, dass das Geräusch unmittelbar erzeugt werden kann und man auf diese Weise auch kleine Schritte in Richtung Ziel belohnen kann, zum anderen, dass es abgekoppelt ist von den Stimmungen und Emotionen des Ausbilders. Wer sich ein wenig mit Verhaltenspsychologie auseinandergesetzt hat, wird sich wahrscheinlich noch an den berühmten Versuch des Nobelpreisträgers Iwan Pawlow erinnern, der die klassische Konditionierung nachwies, indem er die Fütterung eines Hundes mit dem Läuten einer Glocke verknüpfte, bis der Speichelfluss des Hundes durch das bloße Läuten der Glocke auch ohne anschließende Fütterung angeregt wurde. Im Gegensatz dazu erfolgt die operante Konditionierung nach B. F. Skinner, indem spontanes Verhalten durch eine bestimmte Reaktion gefördert oder vermindert wird - wodurch neue Verhaltensmuster eintrainiert werden können. Es ist sicherlich nicht die schlechteste Methode, um ein Tier möglichst ohne Strafen und Zwänge zu erziehen - allerdings muss man sich vor Augen halten, dass dies für die Arbeit von Lebewesen gilt, die lernen sollen, mit einer anderen Spezies zusammenzuleben. Was ich im Zusammenhang mit der RTL-Sendung allerdings besonders interessant finde: Alle Tiertrainer, auf die ich beim Recherchieren gestoßen bin und die mit der Klickermethode arbeiten, sind sich darüber einig, dass diese nicht dazu geeignet ist, unerwünschtes Verhalten abzutrainieren. Behaltet das beim Weiterlesen unbedingt im Gedächtnis.

Aurea Verebes zieht also immer wieder Vergleiche zwischen dem Verhalten eines Kindes und dem eines Hundes und will Kleinkinder mittels eines Klickers aus dem Fachgeschäft für Haustierbedarf zu erwünschtem Verhalten ermutigen. Sie rechtfertigt diese Methode damit, dass sie beim Vokabeltraining mit einem ihrer Kinder darauf zurückgegriffen hat, und bezeichnet diese Methode als "innovativ" - nun, wir erinnern uns an das pawlowsche Experiment, das stammt übrigens aus dem Jahr 1905, ist also nicht so neu, und gehört zu den Grundlagen der modernen Verhaltenspsychologie. Nach den aktuellen Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie ist Kindererziehung allein durch Konditionierung ganz allgemein nicht innovativ, sondern im Gegenteil eher rückschrittlich, weil dadurch nur kurzfristig Erfolge erzielt werden können - sie reduziert das Kind rein auf sein Verhalten und wird weder seinem Charakter noch seinen Bedürfnissen in irgendeiner Art und Weise gerecht. Manche Experten sind sogar der Meinung, dass der Klicker sogar zur Belastung der Eltern-Kind-Beziehung führen kann, da er das Kind objektifiziert wird und dies somit eher für eine Entfremdung von der Bezugsperson sorgt. Natürlich werden in der einen Sendung, die bisher ausgestrahlt wurde, unmittelbar Erfolge erzielt - aber bereits am Ende dieser zeigt sich, dass sie nicht von Dauer sind. Zumal der Klicker bei den Kindern gar nicht so eingesetzt wird, wie er laut Frau Verebes eigentlich sollte. Darüber hinaus wird eines völlig außer acht gelassen - nämlich, der Ursache des Konflikts nachzugehen und die Verantwortung der Eltern diesbezüglich zu hinterfragen. Abgesehen davon verfolgt die Kindererziehung ja auch nicht dasselbe Ziel wie die Erziehung eines Hundes - einem Hund soll beigebracht werden, mit einem oder mehreren Menschen zusammenzuleben und ihr Verhalten entsprechend anzupassen. Ein Kind hingegen soll zu einem autonomen, reflektierten, selbstbewussten Erwachsenen werden - da reicht es doch nicht aus, erwünschtes Verhalten durch Klicken zu "belohnen"! Ein Hund weiß nicht, warum bestimmtes Verhalten erwünscht ist und anderes nicht - weil er auch nicht danach fragt. Das ist bei einem Kind komplett anders - das muss irgendwann verstehen lernen, warum bestimmtes Verhalten erwünscht ist und anderes nicht. Dazu reicht eine reine Symptombekämpfung, wie sie in dieser Sendung gezeigt wird, nicht aus. Wenn ihr mir nicht glaubt, dann stellt euch jetzt ganz in Ruhe vor, wie ein Teenager reagieren würde, wenn ihr plötzlich mit so einem Klicker ankommen würdet.

Train Your Baby Like A Dog stellt, ähnlich wie früher Die Super Nanny, zwei Familien mit jeweils einem "Problemkind" vor - in beiden Fällen ein kleines Mädchen, das in einem Alter ist, in dem es gerade erst lernt, sich zu artikulieren. Das eine Kind verweigert das Zähneputzen und will nicht alleine einschlafen; das andere ist äußerst impulsiv und auch aggressiv, was vor allem die kleine Schwester zu spüren bekommt. In beiden Fällen wird das Verhalten der Eltern gar nicht angesprochen, auf deren generelles Verhältnis zu den Kindern nicht eingegangen - stattdessen beschränkt man sich darauf, Kinder in punktuellen Problemsituationen zu "korrigieren". Ganz abgesehen davon, dass so manche Verhaltensweisen durch den Sender ganz augenscheinlich auch noch zusätzlich provoziert werden - denn welches zweijähriges Kind fängt nicht an zu brüllen, wenn es im Bett liegt, einschlafen soll und dabei von fremden Menschen umringt wird, die ihm eine Kamera ins Gesicht halten? Wie auch immer - jedenfalls setzt Frau Verebes den Klicker ein, um in den Kindern positive Assoziationen zu bestimmten Gegenständen zu wecken - etwa bei der Zweijährigen, die nicht alleine schlafen will, zu einer Decke, die dann ins Bett kommt, oder mit einer neuen Zahnbürste. Um die angeblichen Parallelen von Kindern und Hunden zu veranschaulichen, werden außerdem Aufgaben gestellt, die mit dem eigentlichen Problem gar nichts zu tun haben - so wird das Mädchen, das seine Aggressionen an der kleinen Schwester auslässt, dazu angehalten, zuvor in ihrem Zimmer versteckte Haargummis zu suchen und in ihrem Korb zu sammeln, weil Suchen laut der ausgebildeten Hundetrainerin das "Erkundungsverhalten" fördere. Außerdem führt Frau Verebes ein sogenanntes "Markerwort" ein, bei dessen Erwähnung das Mädchen seine Tätigkeit sofort unterbrechen und zur Mutter schauen soll. Zusätzlich wird das Kind auch noch mit Leckerlis belohnt - zum Glück allerdings mit Obst und nicht mit Hundekuchen, aber so etwas kann, wenn es ganz blöd kommt, zu Essstörungen führen. Man wartet eigentlich nur noch darauf, dass den Kindern Befehle wie "Sitz!", "Hol's!" und "Pfui!" zugerufen werden.

Der Witz dabei ist, dass diese Sendung keine neue Erfindung von RTL ist - dasselbe Format gab es bereits im Sommer 2019 auf dem britischen Fernsehsender Channel 4. Schon damals gab es heftige Kritik und eine Petition gegen die Ausstrahlung der Sendung - dasselbe geschah auch bezüglich des RTL-Formats. Wie in Deutschland, so wurde auch in Großbritannien nur die Pilotfolge ausgestrahlt - zu groß war der Druck der Öffentlichkeit auf die Sender. RTL war das alles bewusst - trotzdem kauften sie die Sendung ein, weil sie die Idee als "interessant" und "erzählenswert" klassifizierten. Ebenso ist dem Sender der fehlende wissenschaftliche Rückhalt der Klicker-Methode in Bezug auf Kinder bekannt. Auch Frau Verebes war sich der Kontroverse bewusst, wurde sogar von ihrer britischen Hundetrainer-Kollegin davor gewarnt - und erdreistete sich sogar, sich selbst diesbezüglich mit Herrn Dr. Drosten zu vergleichen. Was den ominösen Herrn Dr. Hüllemann betrifft, so hat auch er sich bisher nicht öffentlich von der Methode distanziert - und das, obwohl er den Klicker auf seinem Blog eher nicht befürwortet.

Die Intention der Sendung ist also relativ leicht zu durchschauen - RTL will bloßstellen und provozieren, um auf diese Weise Zuschauer zu generieren. Und missachtet dabei komplett die Menschenwürde. Das ist eine völlig andere Dimension als etwa Konzepte wie das Dschungelcamp, wo ausschließlich erwachsene Menschen mitmachen, die für die Wirkung ihres Tuns in vollem Umfang die Verantwortung tragen. Hier geht es um kleine Kinder, die einem Millionenpublikum vorgeführt werden, weil sie sich nicht wehren können. Was die Eltern betrifft, so kann ich über deren Intention nicht urteilen - möglicherweise sind sie selbst Opfer leerer Versprechungen. Aber meines Erachtens grenzt das Filmen von Kindern in ihren privatesten und intimsten Momenten an seelischer Misshandlung. Einen Aspekt sollten wir aber aus gutem Grund nicht vergessen: Es reicht nicht aus, selbst Kinder zu haben, um professionelle Erziehungshilfe zu leisten. Es gibt einen Grund, warum es einer umfassenden Ausbildung und praxisnaher Erfahrung bedarf, um sich Sozialarbeiter, Therapeut, Pädagoge, Innen und alle dazwischen oder sowas in der Richtung zu nennen: Diese Berufsgruppe trägt unheimlich viel Verantwortung - und muss sich bewusst sein, dass sie bei unprofessionellem Vorgehen großen Schaden anrichten kann, der häufig nicht wiedergutzumachen ist. Darüber hinaus stützt man sich in der sozialen Arbeit nicht auf eine einzige, "allgemeingültige" Methode, sondern sind mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Methoden vertraut, weil kein Mensch wie der andere ist. So etwas kann eine Hundetrainerin nun einmal nicht leisten. Eine Hundetrainerin zu konsultieren, um Probleme mit seinem Kind zu bewältigen, ist in etwa so, als würde ich den Arzt rufen, weil mein Klo verstopft ist. Und eines noch: Soziale Konflikte sind häufig sehr spannend - ja, das stimmt, und das verstehe ich auch. Mir geht es ja mehr oder weniger genauso. Man sollte sich aber immer vor Augen halten, dass diesen häufig Schicksale zugrunde liegen, die nicht für das Auge der Öffentlichkeit bestimmt sind.

vousvoyez

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