Mittwoch, 20. September 2017

Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis der Brunnen leer ist

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Sprichworte gehören zum Alltag jeder Kultur und haben meist einen erzieherischen Charakter. Das Interessante daran ist, dass es in unterschiedlichen Kulturen ähnliche Sprichworte und Redewendungen gibt, auch wenn sie manchmal anders formuliert werden. Der Urheber der volkstümlichen Sprichwörter ist zumeist nicht bekannt. In meiner Schulzeit war es eine Zeit lang üblich, Aufsätze zu bekannten Sprichwörtern zu verfassen, meist aus unserem eigenen Erfahrungsschatz. Häufig sahen es Lehrer nicht so gerne, wenn der eine oder andere eine Geschichte schrieb, die in der Welt der Phantasie angesiedelt war. Ein Freund von mir hatte als Facebook-Profilbild einmal die letzte Seite eines Schulaufsatzes, dessen Handlung auf einem Computerspiel basierte. Auffällig war die ordentlich verfasste, wie üblich mit Rotstift gehaltene Anmerkung der Lehrerin, die da geschrieben hatte: "Du sollst keine Phantasiegeschichte schreiben, sondern einen Erlebnisaufsatz!" Das letzte Wort war doppelt unterstrichen. Dies machte aus der überbordenden Phantasie eines Zehnjährigen einen Akt des Ungehorsams. Und es wirft in mir die Frage auf, ob Lehrende ohne Humor und Phantasie nicht ihren Beruf verfehlt haben, denn jener kleine Junge von damals verdient heute mit seiner Phantasie sein Geld.

Zurück zu den Sprichwörtern. Sprichwörter können in ihrer erzieherischen Intention auch ganz schön nervig sein. Das liegt auch daran, dass man sie irgendwann einmal auswendig kann - genauso wie die üblichen Sätze diverser Eltern, Großeltern oder anderer älterer Familienmitglieder. Und dass die Tugenden, die darin genannt werden, mitunter schon sehr veraltet sind. Mein Vater reagierte darauf, indem er Weltmeister im Verdrehen von Sprichwörtern wurde - und so hat es das eine oder andere Prachtexemplar auch in meine Sammlung der Weisheiten geschafft. So wie das Sprichwort "Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht" - das vor allem in einem Land an Sinn verliert, das sein Wasser aus Wasserleitungen oder Flaschen im Supermarkt bezieht. So sind Brunnen aller Art in der heutigen Zeit fast nur noch historische Zierobjekte. Als Kind faszinierten mich vor allem die Brunnen in alten Schlössern, deren Öffnungen mit einem Gitter verschlossen sind, so dass man bis auf den Grund sehen kann. Manche sind so tief, dass man Nebelschwaden sehen kann - da Schlösser und Burgen gerne auf Anhöhen gebaut wurden, war es nicht so einfach, an Grundwasser zu kommen. Es sieht gefährlich und faszinierend zugleich aus. Vielleicht sind Brunnen deswegen so oft in volkstümlichen Märchen und Sagen vertreten - denken wir nur an Frau Holle oder den Froschkönig.

Im übertragenen Sinn hat das Sprichwort natürlich inzwischen nichts mehr mit einem wirklichen Brunnen zu tun, sondern bezeichnet die Ausnutzung des Wohlwollens seines Gegenübers. Eine Erfahrung, die wohl jeder kennt und die ich auch schon mehrfach gemacht habe - und zwar auf beiden Seiten. Im Großen und Ganzen beruhen Geben und Nehmen nicht nur in unserer Kultur auf Gegenseitigkeit. Die geringste Erwartung bezieht sich auf den Respekt des Nehmenden gegenüber des Gebenden. Aber überall auf der Welt gibt es Menschen, die dies offensichtlich nicht verstanden haben - und sei es auch nur, weil diese Art von Geben und Nehmen meist erst erlernt werden muss. Und selbst da gibt es Personen, die es nie lernen - vor allem jene, die beispielsweise an eine Kollektivschuld glauben. Das kann verschiedene Länder genauso betreffen wie einzelne Personen. Wenn ich glaube, jemand ist mir etwas schuldig, weil beispielsweise dessen Großvater meinem Großonkel etwas weggenommen hat, begreife ich das Wohlwollen dieser Person als Selbstverständlichkeit. Und das, obwohl ich mit meinem Großonkel so wenig zu tun habe wie er mit seinem Großvater. Basierend auf dieser Art von Konflikt sind viele große literarische Werke entstanden - denken wir nur an Romeo und Julia oder an die griechische Sage von Atreus und Thyestes. Mit der Individualisierung denken wir heute in unserer Kultur aber anders - jeder ist für sich selbst verantwortlich, und niemand sollte für etwas bestraft werden, was beispielsweise ein Verwandter verbrochen hat. Ausnahmen bilden nur Kinder, die noch nicht strafmündig sind und der Aufsicht und Anleitung Erwachsener bedürfen. Im Großen und Ganzen ist das eine Errungenschaft, die es wert ist, beibehalten zu werden.

vousvoyez

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