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Photo by Johnell Pannell on Unsplash |
Reden wir stattdessen über Themen, die uns nicht erst seit gestern bewegen - auch wenn sie heutzutage ziemlich oft aufgegriffen werden. Zum Beispiel über zwei dystopische Romane, die bereits mehrere Generationen bewegt haben und immer noch beklemmende Aktualität besitzen.
Sowohl George Orwells 1984 als auch Aldous Huxleys Brave New World (dt. Schöne neue Welt) gehören bereits seit vielen Jahrzehnten zu den Klassikern unter den dystopischen Romanen - auch, weil wir vieles davon in unsere Gegenwart transferieren können. Aber gerade deshalb muss ich vorab noch einmal klarstellen, dass weder Orwell noch Huxley hellseherische Fähigkeiten hatten - sie hatten allerdings ein sehr scharfsinniges Gespür für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, und in gewisser Hinsicht sind ihre Werke auch von der Zeit geprägt, in der sie geschrieben haben. Und besonders George Orwell würde mit Sicherheit im Grab rotieren, wenn er mitbekäme, wie häufig sein Roman dieser Tage missverstanden und missinterpretiert wird. Dazu aber später mehr.
In beiden Romanen geht es um die Schreckensvision einer zukünftigen Weltordnung, und um die Schicksale derer, die diese in Frage stellen. Es sind keine strahlenden Helden, sondern eher normale oder gar schwache Mitglieder der Gesellschaft, in der sie leben, die am Ende an dem Versuch scheitern, sich dieser zu entziehen oder sie gar zu verändern. Die Zukunftsversionen der beiden englischen Schriftsteller scheinen unvereinbar, und doch scheint sich, besonders wenn man heutzutage auf China schaut, eine Fusion aus ihnen zu entwickeln - einerseits ist das Land zu einer Art Versuchslabor für moderne Überwachungstechnologien geworden, andererseits vermischt sich High Tech mit einem totalitären Regierungssystem. Menschen werden nach einem Punktesystem bewertet, welches erwünschtes Verhalten belohnt und unerwünschtes bestraft - so werden sie zu Konformismus und Gehorsam "erzogen" und tauschen ihre persönliche Freiheit gegen finanzielle und narzisstische Annehmlichkeiten, ohne es überhaupt zu registrieren. Durch diese Art der unsichtbaren Überwachung wird eine falsche Gleichheit hergestellt - denn genau wie du allen anderen schaden kannst, können die anderen auch dir schaden. Sowohl Huxleys als auch Orwells Roman sind mit viel Zynismus geschrieben, wobei Brave New World im Ganzen eine eher ironische Betrachtung der zeitlichen Entwicklungen ist, und wirken so wie merkwürdige Zerrbilder unserer Gegenwart. Dabei schien dieser Weg ihnen gar nicht vorgezeichnet zu sein. Sie lernten einander in der Eliteschule Eton kennen, wo Huxley Lehrer und Orwell, der damals noch Eric Arthur Blair hieß, Schüler war - danach trennten sich ihre Wege, um für einen kurzen Zeitpunkt wieder zusammenzufinden, als sie gegenseitig ihre Werke rezensierten - hier endete jedoch die gegenseitige Wertschätzung ein wenig. Sie waren auch viel zu verschieden, um wieder zusammenzufinden - die klassischen Gegensätze von Intro- und Extraversion, gepaart mit der unterschiedlichen sozialen Herkunft.
Der 1903 geborene Blair, Sohn eines britischen Kolonialbeamten, kam mit einem Stipendium nach Eton, ein College für die Söhne der Oberschicht - eine zeitlose Enklave, in der die zukünftige Elite des britischen Empires ausgebildet wurde. Der 1894 geborene Huxley wiederum war der Spross einer prominenten Familie - sein Vater war Autor und Biologe und maßgeblich an der Durchsetzung der darwinistischen Lehre beteiligt; sein Bruder Julian war ein bedeutender Biologe und Zoologe, Vordenker der Eugenik und erster Generaldirektor der UNESCO; sein Bruder Andrew erhielt den Nobelpreis für Medizin. Auch er war vor seiner Lehrtätigkeit Schüler in Eton gewesen. Im Gegensatz zu ihm gelang es dem jungen Blair jedoch nie, sich in der Welt der Eliteschulen heimisch zu fühlen - aufgrund seiner Herkunft von den anderen gemobbt, begann der Junge rebellisch zu werden. Huxley hatte seinen Lehrerposten angenommen, weil sein Vater ihn nicht mehr finanziell unterstützte. Er war kein begabter Pädagoge, wurde aber für seine sprachlichen Fähigkeiten bewundert und vermittelte seine Liebe zur Sprache auch den Schülern. Durch ihn lernte Blair die französische Literatur kennen und begann zu schreiben. Sowohl Schüler als auch Lehrer wurden in ihrer schriftstellerischen Arbeit sehr vom Geist des Eton College geprägt - er festigte in ihnen die Überzeugung, dass sich in Zukunft eine streng hierarchische, unverrückbare Kastengesellschaft etablieren würde, aus der es kein Entkommen gäbe. Man muss allerdings dazu sagen, dass das Klassenbewusstsein der britischen Gesellschaft ohnehin schon immer besonders stark war - auch wenn der Auf- und Abstieg nicht von vorn herein ausgeschlossen ist.
Nachdem er Eton verlassen hatte, trat Blair seinen Polizeidienst in Burma an, den er 1927 quittierte, um in England freier Journalist und Schriftsteller zu werden. Er lebte mehrere Jahre als Vagabund und Gelegenheitsarbeiter in Paris und London - dies bewog ihn dazu, für die Opfer des Systems zu schreiben, und festigte in ihm den Glauben, dass eine Revolution nur vom Proletariat ausgehen könnte, ein Gedanke, der sich auch in 1984 wiederfindet. Er veröffentlichte unter dem Pseudonym George Orwell, das er unter anderem auch angenommen hatte, weil seine Familie fürchtete, sonst ihr Ansehen zu verlieren. 1936 meldete er sich freiwillig als Soldat im Spanischen Bürgerkrieg, wo er auf der Seite der trotzkistischen P.O.U.M. (Partido Obrero de Unificatión Marxista) gegen die Franco-Diktatur kämpfte. Unter seinen Mitstreitern erlebte er zunächst das Idealbild einer klassenlosen Gesellschaft, doch dann wurde der Widerstand vom stalinistischen Totalitarismus überrollt, und Orwell sah sich plötzlich in der Rolle es politisch Verfolgten wieder, der fliehen musste. Seine Erfahrungen in Spanien sollten auch seine beiden bekanntesten Werke prägen: In Animal Farm finden sich beispielsweise Stalin und Trotzki in den Schweinen Napoleon und Schneeball wieder, in 1984 im Großen Bruder und dem Untergrundkämpfer Emmanuel Goldstein. Damals lernte er die Strategien des Stalinismus kennen: Falschinformation und die Umkehrung der Lüge zur Wahrheit, was vor allem in der Handlung von 1984 sehr prägend ist - etwa in paradoxen Slogans wie "Unwissenheit ist Macht" oder "Krieg ist Frieden", welche die Perversion totalitärer Regime karikieren: Wörtern wird der Inhalt geraubt und dieser ins Gegenteil verkehrt, wodurch sie jegliche Bedeutung verlieren. Wir erleben das leider auch in unserer Gegenwart: Erst vor zwei Tagen habe ich über einen Tweet von Erich von Däniken erfahren, dass man ja gar nichts mehr sagen dürfte - während er gleichzeitig ungehindert einen Schwall Unsinn ins Netz blökte, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.
Animal Farm wurde im Jahr 1945 veröffentlicht; zuvor hatte Orwell jedoch Schwierigkeiten gehabt, einen Verlag für das Buch zu finden - die meisten lehnten eine Veröffentlichung ab, da sie eine gekränkte Reaktion der Russen fürchteten. Im selben Jahr war seine Frau gestorben, mit der er ein Jahr zuvor einen kleinen Jungen adoptiert hatte. Gleichzeitig war auch sein eigener Gesundheitszustand nicht sehr stabil, da er bereits seit Jahren immer wieder Probleme mit der Lunge hatte. 1947 stellte man eine erhebliche Zerstörung seines linken Lungenflügels fest; daraufhin zog er sich in ein stilles Farmhaus auf der Hebriden-Insel Jura zurück und begann, an 1984 zu arbeiten. Hier zeigt sich wieder ein auffälliger Gegensatz zu Huxley, der milderes Klima, luxuriöse Lebensumstände und intellektuelle Gesellschaft bevorzugte und sich mit Sicherheit niemals freiwillig auf eine fast menschenleere, windige Insel zurückgezogen hätte. Orwell wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, wollte aber vorher unbedingt noch seinen Roman veröffentlichen, und arbeitete unermüdlich - selbst wenn er zu schwach war, um vom Bett aufzustehen. 1984 wurde im Jahr 1949 veröffentlicht, und Orwell wurde nach London ins Krankenhaus eingeliefert, wo er 1950 mit nur 46 Jahren an einer Lungenblutung starb.
Aldous Huxley wiederum wurde erst mal Ehemann und Vater, nachdem er Eton den Rücken gekehrt hatte. Die bedeutenden Personen in seiner Familie hatten auch in ihm von jung an ein Interesse an Wissenschaft, Medizin, Biologie und technischen Innovationen geweckt, was sich auch in Brave New World widerspiegelt, ebenso wie mit dem nie enden wollenden intellektuellen Schlagabtausch mit seinem Bruder Julian. Dieser war ein großer Befürworter der Eugenik, während Aldous ihr sowohl mit Faszination als auch mit Abstoßung gegenüberstand. Der Diskurs zwischen Rationalität und Utopie zwischen den beiden Brüdern sollte einen bis heute andauernden intellektuellen Streit der Menschheit vorwegnehmen. Das Thema Entmenschlichung durch wissenschaftliche Forschung zog sich durch viele literarische Werke Huxleys, ebenso wie die Frage der Rolle des Individuums in einer Welt aus zunehmender Massenproduktion und Massenkonsum. Sein 1932 erschienener Roman Brave New World war eine Art Gegenentwurf zur allgemein etablierten Form des Science-Fiction-Romans, in der Fortschritt immer als Segen für die Menschheit dargestellt wurde.
1937 zog er nach Kalifornien, wandte sich dem Buddhismus, der Mystik und dem religiösen Universalismus zu und verdingte sich zeitweise als Drehbuchautor in Hollywood, wobei er mit seinem Gehalt die Flucht von Juden und linksgerichteten Künstlern aus dem deutschen NS-Staat unterstützte. In den 1950ern experimentierte er mit Meskalin und LSD - die daraus entstandenen Erfahrungen verarbeitete er unter anderem in seinem The Doors of Perception, nach der Jim Morrison später seine Band benennen sollte: The Doors. Ganz allgemein wurde er durch seine Erfahrungen mit Halluzinogenen eine Ikone der Beat Generation und später der Hippie-Bewegung. 1960 wurde bei Huxley Kehlkopfkrebs festgestellte - zwei Jahre später erschien sein letzter Roman Island (dt. Eiland), der sehr von seinen Erfahrungen mit dem Buddhismus geprägt ist und eine Art Gegenentwurf zu Brave New World darstellt. Huxley starb am 22. November 1963 - dem Tag, als John F. Kennedy erschossen wurde, weshalb sein Tod nicht so viel Beachtung fand.
Wie schon gesagt, erscheinen die beiden so bedeutenden dystopischen Romane sehr gegensätzlich - auf der einen Seite Orwells totalitäre Schreckensherrschaft, welche die Leute durch künstliche Verknappung, Desinformation und totale Überwachung in Knechtschaft hält; auf der anderen seite eine hedonistische Spaßgesellschaft, die durch Suggestion gelernt hat, diese Knechtschaft nicht nur zu akzeptieren, sondern regelrecht zu lieben. Die eine Gesellschaft wird also von Angst geleitet, die andere von Genuss. Entsprechend ist Auflehnung in beiden auf unterschiedliche Weise schwierig. Beide Romane erzählen von einer globalisierten Welt - drei sich ständig bekriegende Supermächte bei Orwell, ein Weltstaat, der fast alle Menschen unter seiner Kontrolle hält, bei Huxley. Die Regierung in 1984 ist repressiv, bürokratisch und praktisch allwissend, während die Kontrollinstanz in Brave New World auf Wissenschaft und Technik fokussiert ist und darauf achtet, die Gesellschaft stabil zu halten. Deswegen sind zu große Innovationen auch nicht erwünscht, denn diese könnten destabilisierend wirken.
Orwell hat den Geist des Totalitarismus wohl so gut verstanden wie kaum ein anderer. In 1984 kreierte er einen gigantischen Personenkult um einen "Großen Bruder" (engl. "Big Brother"), der selbst nie in Erscheinung tritt, aber dennoch allgegenwärtig ist. Personenkulte sind uns natürlich auch von realen totalitären Regimes nur allzu bekannt, sei es Hitler oder Stalin, sei es Mobutu oder Idi Amin, sei es Xi Jinping oder Kim Jong-un. Der niemals selbst in Erscheinung tretende Diktator findet sich auch in Woody Allens Film Sleeper (dt. Der Schläfer) von 1973 wieder - hier stellt sich gegen Ende des Films heraus, dass er bereits gestorben und nur seine Nase übriggeblieben ist. Die Gesellschaft in Orwells Roman ist streng hierarchisch organisiert und von ständiger Überwachung sowie Desinformation und inszenierter Armut geprägt, die Menschen sind ständig mit ihren Existenznöten beschäftigt. Auch in Brave New World gibt es strenge, unverrückbare Hierarchien, aber die Bevölkerung stellt diese aufgrund ihrer Konditionierung nicht in Frage. Statt anspruchsvoller Kunst und Kultur gibt es in beiden Werken nur seichte Unterhaltung - in 1984 werden die Leute damit dumm gehalten, in Brave New World sind sie aufgrund der emotionalen Verarmung für keine andere Unterhaltung mehr zugänglich. In 1984 werden kritische Gedanken durch Gewalt und einer Kontrolle, die bis in die intimsten Bereiche dringt, unterdrückt; in Brave New World werden alle von klein auf so angepasst, dass sowas wie kritische Gedanken gar nicht erst aufkommt - und so plappert die schöne Lenina munter alles nach, was ihr einst in der Schlafschule eingetrichtert wurde, ohne es je in Frage zu stellen oder eigene Gedanken zu entwickeln. In beiden Romanen werden politische Gegner aus der Gesellschaft entfernt: In 1984 verschwinden sie spurlos und niemand spricht danach mehr über sie; in Brave New World werden sie auf abgeschiedene Inseln deportiert, wo sie niemandem mehr "schaden" können. Bei Orwell wird Hass auf eine ominöse Widerstandsbewegung geschürt, bei Huxley hat man das jedoch nicht nötig; da alle glücklich mit ihrer Rolle in der Gesellschaft sind, kann Neid oder gar Hass gar nicht erst aufkommen.
Winston Smith, der Protagonist von 1984, gehört zur Äußeren Partei, deren Mitglieder besonders streng kontrolliert werden, und arbeitet im Ministerium für Wahrheit, wo er permanent damit beschäftigt ist, die Vergangenheit umzuschreiben und auf Parteilinie zu halten. Insgeheim zweifelt er das Staatssystem und den Großen Bruder jedoch an, führt heimlich Tagebuch und verliebt sich in Julia, die ebenfalls die Partei ablehnt, sich nach außen hin jedoch völlig parteikonform gibt. Die beiden richten sich ein Liebesnest in einem Zimmer ein, das vermeintlich nicht überwacht wird - Liebe und Sex werden somit zu einem Akt der Auflehnung und Rebellion, zu einem Ausweg aus der furchterregenden Welt, die der Roman beschreibt, und führt letztendlich in den Widerstand bis zum Tod. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass sie auf die falschen Freunde gesetzt haben, denn sie werden inhaftiert, und in der Folge wird Winstons Martyrium beschrieben - Verhöre, Folter, permanentes Licht und Essensentzug, Manipulation des Willens, Zerstörung des Selbstvertrauens, bis hin zur Aufgabe des letzten Restes an Selbstachtung: Winston verrät seine Liebe zu Julia, wodurch sein Widerstand endgültig gebrochen ist. Auch Julia verrät Winston, und ihre Liebe ist zerstört. Denn die Partei will keine Märtyrer und unterzieht die Gefangenen erst mal einer Gehirnwäsche, um sie zu demütigen und ihnen den Heldenstatus von vorn herein zu nehmen.
Bei Huxley wiederum herrscht Bequemlichkeit und Stabilität durch unmittelbare Bedürfnisbefriedigung - die Welt ist von Fortschrittsglauben, Industrialisierung und Konsum geprägt. Die Menschen werden in Reagenzgläsern gezüchtet, ihr Leben ist von Anfang an als Teil von vier Kasten vorbestimmt: Die Alphas stellen die körperliche, geistige und politische Elite dar, die Epsilons jedoch werden durch Klonen am Fließband hergestellt, um die am wenigsten anspruchsvollen Arbeiten zu verrichten. Doch sie sind alle vollauf zufrieden mit ihrem vorgezeichneten Lebensweg und wollen es gar nicht anders haben. Tiefere emotionale Beziehungen sind tabu; natürliche Vorgänge wie Geburt, Krankheit und Alter sind diesen Menschen unbekannt, sie werden sogar als anstößig erlebt; negative Gefühle werden mit einer frei zugänglichen, nebenwirkungsfreien und stark dosierbaren Droge namens Soma unterdrückt. Damit ist hier Liebe ein Akt der Rebellion, Sex hingegen reine Bedürfnisbefriedigung ohne emotionale Bindung. Das Individuum zählt nicht, der Tod eines Menschen wird einfach hingenommen und nicht beweint, zumal die Sterbenden sowieso in ein Hospiz untergebracht und mit Soma versorgt werden - ähnlich, wie Huxley kurz vor seinem Tod noch einmal LSD einnahm. Auch Religionen gibt es nicht mehr, dafür aber eine Art Verehrungskult des Automobilpioniers Henry Ford - im Gegensatz zu den Menschen in den Reservaten, die das Christentum mit Naturreligionen verbinden.
Bernard Marx gehört zur Alpha-Klasse, doch ein Fabrikationsfehler führte nicht nur zu kleinerem Wuchs und weniger Ansehnlichkeit, sondern auch zu geistiger Unabhängigkeit. Sein Außenseitertum gibt ihm ein Gefühl von Fremdheit und Einsamkeit, und er hat wenig Erfolg bei Frauen. Trotzdem gelingt es ihm, die schöne Lenina Crowne zu einem Kurzurlaub in einem Reservat in New Mexico einzuladen. Dort begegnen sie all dem, was aus dem modernen Leben schon längst verbannt ist: Schmutz, Ungeziefer, schwangere Frauen, stillende Mütter, alte Menschen. Unter ihnen leben jedoch, wie sich bald herausstellt, zwei Weiße: Linda, die vor vielen Jahren im Reservat verlorenging und wegen fehlender Verhütungsmittel ein Kind austrug, und ihr Sohn John, ein junger, gut aussehender Mann, der jedoch im Referat aufgewachsen ist und die Zivilisation nur aus Erzählungen seiner Mutter kennt. Im Gegensatz zu Bernard, der sich am Ende doch als schwach und feige herausstellt und nicht auf den Komfort der Zivilisation verzichten kann, ist John der Revolutionär unter den Außenseitern, jemand, der einen Umbruch herbeiführen will. Das Problem ist allerdings, dass es ihm hierfür an Phantasie fehlt - er gibt hauptsächlich Passagen aus Shakespeares Werken wieder, die er in der Gesamtausgabe gelesen hat, die er irgendwann einmal im Reservat gefunden hat, hat aber keine eigenen Gedanken und Ideen. Mit Bernard verbindet ihn jedoch die Erfahrung von Ausgrenzung, denn im Reservat werden er und Linda als Außenseiter behandelt, und sie empfindet es als Schande, ein Kind auf die Welt gebracht zu haben. Und wie Bernard, so leidet auch er in Folge unter der sozialen Kälte einer Zivilisation, für die sie immer anders sein werden, in einer Welt, in der man nicht anders sein darf, und all ihre Gefühle spüren wollen in einer Gesellschaft, in der Gefühlstiefe unerwünscht ist.
Bernard nimmt Mutter und Sohn mit in die Zivilisation, wo die beiden mit Neugier wie seltene, vom Aussterben bedrohte Tiere begafft werden - oder wie jene fremdländischen Menschen, die im 19. Jahrhundert aus ihrem Umfeld gerissen und in einem Zoo ausgestellt werden. John ist erst beeindruckt von der Fortschrittlichkeit dieser Welt, fühlt sich von ihren Sitten aber allmählich abgestoßen - die Lieblosigkeit der Menschen, die Banalität der Unterhaltungsmedien und der ständige Drogenkonsum irritieren ihn am meisten. Die einzigen, mit denen er offen sprechen kann, sind Bernard Marx und sein Freund Helmholtz Watson, der durch Shakespeare angeregt wird, sich kreativ zu betätigen. Bernard hingegen erlebt durch seine "Entdeckung" des "Wilden" zum ersten Mal gesellschaftliche Anerkennung und genießt sie in vollen Zügen. Am Ende werden alle drei festgenommen, und Marx wird nach Island, Watson auf die Falkland-Inseln verbannt. John wiederum zieht sich in einen verlassenen Leuchtturm zurück, wo er sich selbst geißelt und bald von Schaulustigen umgeben ist, die ihn beobachten und filmen, bis er sich im Turm erhängt.
Wie schon angedeutet, war Brave New World sehr von den Debatten um die Eugenik in den 1930er Jahren inspiriert - die sogenannte "Erbgesundheitslehre" war nicht umsonst vor allem im Nationalsozialismus sehr präsent, wo sie häufig auch als "Rassenhygiene" bezeichnet wurde. Doch auch der Burenkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts heizte in England die Debatte um die Eugenik an, und schon damals wurde etwa über die Sterilisation von Menschen mit Behinderung und mangelnder sozialer Anpassung gesprochen. Und selbst heute, wo die Wissenschaft schon viel weiter ist, halten rechtsextreme Gruppierungen immer noch an den alten Lehren der Eugenik fest, auch wenn sie es natürlich nicht zugeben. Im Nationalsozialismus wurde damit auch die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" gerechtfertigt, die darin bestand, Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen zu ermorden oder in den Konzentrationslagern medizinische Versuche an Menschen durchzuführen. Das ist auch der Grund, warum der Begriff "Eugenik" in der heutigen Zeit nicht mehr so gern benutzt wird. In der Frühzeit wurde die Lehre eher sozialdarwinistisch ausgelegt - ähnlich wie in der Tierzucht, sollte es darum gehen, Erbkrankheiten zu reduzieren und so die Erbanlagen der Menschen allgemein zu verbessern. Heute sind wir von einer neuen Form der Eugenik gar nicht so weit entfernt: Man denke an die Designer-Babys, die durch genetische Manipulation den Wünschen der werdenden Eltern angepasst werden sollen. Auch über Erziehung durch Konditionierung und das Lernen im Schlaf, wie sie in Brave New World praktiziert werden, wurde damals sehr angeregt diskutiert. Wissenschaft und Technik waren auf dem Vormarsch und nahmen immer mehr Einfluss auf das Leben der Menschheit. Zusätzlich verkehrte Huxley puritanische Werte in ihr Gegenteil - in seinem Roman sind offene Sexualität und viele Sexualpartner durchaus erwünscht, während Monogamie und Schwangerschaft als seltsam oder gar anstößig betrachtet werden.
Orwell wiederum bezog sich, wie schon gesagt, sehr auf die Mechanismen der totalitären Ausprägung des Kommunismus. Die furchterregende Welt, die er in 1984 kreiert, die beinahe körperlich spürbare eisige Atmosphäre und die allgegenwärtigen Teleschirme sollen uns unsere eigenen Ängste vor Augen führen, um uns zu ermutigen, uns dagegen aufzulehnen. Gleichzeitig führt er uns vor Augen, dass Liebe der Motor ist, um sich gegen eine lieblose Gesellschaft zu stellen - sie ist es, die den Widerstand ermöglicht, und sie muss erst zerstört werden, um auch den Menschen selbst zu zerstören. Das ist eine Erfahrung, die ich selbst schon gemacht habe - wenn auch auf weitaus weniger gefährliche Art und Weise. Nicht umsonst wird "Big Brother" bis heute als Verkörperung des Totalitarismus bzw. der totalen Überwachung verstanden. Natürlich haben sich manche Elemente von Orwells Roman inzwischen überholt - er rechnete wohl nicht damit, dass wir uns immer strengeren Überwachungsmaßnahmen ganz freiwillig unterwerfen, weil man uns einredet, es sei nur zu seiner eigenen Sicherheit. Manche haben das so sehr verinnerlicht, dass es ihnen laut eigener Aussage auch überhaupt nichts ausmachen würde, wenn Überwachungskameras mit Gesichtserkennungs-Software arbeiten würden - man hat ja nichts zu verbergen, und wenn marginalisierte Gruppen dadurch benachteiligt würden, wäre es ihnen auch egal. Gleichzeitig profilieren wir uns rund um die Uhr über unsere Social-Media-Profile und kommen uns dabei ganz toll vor - so sehr, dass wir kaum noch darauf achten, wie viele private Informationen von uns im Netz landen.
Was vor allem in 1984 thematisiert wird, ist die Macht der Sprache als Instrument der Manipulation. Im letzten Teil des Buches geht es außerdem darum, die eigene Wahrnehmung so zu manipulieren, dass man nicht mehr auf sie vertraut. So wird Winston so lange traktiert, bis er davon überzeugt ist, dass zwei plus zwei fünf ergibt, und bemüht sich am Ende sogar, alles zu glauben, was man ihn glauben lassen will, selbst wenn es seiner eigenen Wahrnehmung zuwiderläuft. Das können wir tatsächlich auch heute beobachten: Donald Trump, der in seiner Rede in Kansas den Leuten einredet, dass man ihm mehr vertrauen muss als seinen eigenen Sinnen; Menschen, die sich jede angebliche Wahrheit immer wieder so zurechtrücken, dass sie ins Weltbild passt; Leute, denen es ausreicht, andere zu hassen, wenn sie ihnen nur zutrauen, etwas Böses zu tun. Diese Art der Manipulation bewirkt dann, dass Regierungsgebäude gestürmt werden, dass andere entmenschlicht und bedroht werden, dass die schlichte Aufforderung zum Tragen einer Maske einen Mord verursacht und diese Taten von anderen auch noch verteidigt werden. Und aus diesem Grund reißen sich Leute, die mit Covid-19 auf der Intensivstation liegen, die Infusionen aus dem Arm. Auch 1984 wurde in den letzten Jahren häufig zum Gegenstand der Manipulation: Während der Krieg gegen die Ukraine zu Beginn diesen Jahres in Russland als "Friedensmission" verkauft wurde, behauptete die Sprecherin des Außenministeriums, in Orwells Roman gehe es in Wirklichkeit um den Niedergang des Liberalismus und alle anderen Interpretationen seien Fake. Im Gegensatz dazu scheint man die Message in der DDR sehr wohl verstanden zu haben - man drohte denjenigen, die das Buch verkauften, verliehen oder lasen, drakonische Strafen an, weil es den Sozialismus verunglimpfe.
In den USA und Großbritannien gingen die Verkaufszahlen für 1984 in die Höhe, nachdem Edward Snowden das PRISM-Überwachungsprogramm der NSA bekannt gemacht hatte. Als eine Beraterin Donald Trumps über "alternative Fakten" sprach, eine Phrase, die für Orwells "Doppeldenk" charakteristisch sei, war der Roman sogar auf Platz 1 der Bestsellerlisten auf Amazon. Häufig wird auch die Debatte um politische Korrektheit mit der Sprachmanipulation in 1984 verglichen, während andere zu Beginn der Corona-Pandemie glaubten, diese sei nur eine Ablenkung, um einen Überwachungsstaat ähnlich dem in 1984 zu installieren. Auch in Belarus wurde der Roman um 2020 häufig gelesen, da man Vergleiche zu der Lebenswirklichkeit im Land zog; kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde das Buch verboten und der Verleger verhaftet.
Die Frage ist nun, welche Lehren man aus diesen beiden so visionären Romanen ziehen kann. Nun, vieles habe ich in meinem Artikel ja bereits dargelegt. Vor allem sollte man sich vor denjenigen in Acht nehmen, die Informationen vorenthalten, aber auch vor jenen, die so viele Informationen liefern, dass diese uns über kurz oder lang passiv und egoistisch machen. Die einen beseitigen Fakten, die anderen reden uns ein, dass diese unwichtig seien oder es sie vielleicht sogar nicht gibt. Zu beobachten ist, dass unser aller Verhältnis zur Sprache immer katastrophaler wird - und das, obwohl sie in der Demokratie das wichtigste Instrument darstellt, um Gewalt zu vermeiden. Deshalb ist es auch enorm wichtig, die Aussagekraft und somit den Wert von Sprache zu erhalten - denn sonst treten an ihre Stelle andere Regulierungsmaßnahmen, und das kann durchaus Gewalt sein. Der Wert von Propaganda wird in beiden Romanen offensichtlich: Sie verwirrt, spaltet und schwächt die Bevölkerung. In diesem Lichte hat auch die russische Propaganda, die sich in unseren Medien eingeschlichen hat, dazu beigetragen, unsere Gesellschaft zu destabilisieren. Vieles geht auch mit fehlender Medienkompetenz und der kollektiven Sucht nach Social Media einher. Ich fürchte, der einzige Weg, sich der Manipulation zu entziehen, ist nach wie vor permanentes Überprüfen und Hinterfragen - ansonsten ist es nämlich vielleicht wirklich bald so weit, und wir kommen den Dystopien von Huxley und Orwell noch näher, als es ohnehin schon der Fall ist.
vousvoyez
Arte-Dokumentation: https://www.youtube.com/watch?v=jmHRC3Bv_IA