Dienstag, 17. Dezember 2019

Bruder, warum trinkst du so viele Zigaretten?

(c) vousvoyez
Gut gemeinte Ratschläge können auch fruchtbar sein, wenn man mit der deutschen Sprache noch nicht so vertraut ist. Und natürlich kommt es auch auf den Kontext an. Diese Art von Ratschlägen kann man sicher auch eher annehmen als Besserwisserei, besonders aus den sozialen Netzwerken. Und deswegen will ich heute über ein Thema reden, das ich schon eine Weile vor mir herschiebe, nämlich Nähe und Distanz.

Dass ich dieses Thema schon seit längerer Zeit mal behandeln will, liegt daran, dass mir aufgefallen ist - und da bin ich nicht die einzige -, dass sich unser Verhältnis zu Nähe und Distanz nicht zuletzt auch durch die digitale Revolution sowie Kommunikationsmitteln wie Facebook, Instagram & Co. immer mehr verändert. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte man noch gar nicht die Möglichkeit, sein Leben dermaßen zur Schau zu stellen, wie es heute oft der Fall ist. Was allerdings nicht heißt, dass es nicht auch schon früher Leute mit übermäßigem Geltungsbedürfnis gegeben hätte. Wer kannte sie nicht, die "Adabeis", wie man in Österreich sagt, die, die sich für wichtiger halten, als sie eigentlich sind; die zum Wiener Opernball gehen, in der Hoffnung, ins Fernsehen zu kommen; die auf Urlaub nach Venedig fahren, damit sie überall herumerzählen können, dass sie in Venedig waren, die aber ohnehin nur Schlechtes über Venedig zu berichten haben, nachdem sie ihren Plastikmüll in den Canale Grande geschmissen haben; die, die die Lebensgeschichte eines jeden Prominenten auswendig kennen und jedem nachlaufen, der mal im Fernsehen war; die, die, wenn der Nachbar einen Springbrunnen baut, einen noch größeren in ihrem Garten haben müssen. Das Ding ist halt - früher hatte man als nicht-prominente Persönlichkeit kaum Möglichkeiten, sein Leben öffentlich zur Schau zu stellen. Umgekehrt hat vor einem halben Jahrhundert ein prominentes Paar, nämlich John Lennon und Yoko Ono, die Sensationslust der Medien ad absurdum geführt, indem sie ihre Flitterwochen als Friedenskampagne öffentlich machten. Etwa dreißig Jahre später wurde ihr experimenteller Film Rape als Vorbild für die TV-Show Big Brother genannt, in der Leute zum ersten Mal ganz freiwillig ihr Privatleben aufgaben - wenn auch nur für ein paar Wochen.

George Orwell hat vor 70 Jahren seinen berühmten Roman 1984 veröffentlicht, der von einem totalitären Überwachungsstaat handelt. Auch die oben genannte Show Big Brother nimmt auf diesen Roman Bezug, denn sie ist nach dem nicht greifbaren und deswegen unterschwellig bedrohlichen Herrscher dieses fiktiven Staates benannt, der seine Augen praktisch überall zu haben scheint. Das Buch wird bis heute - ähnlich wie Aldous Huxleys nicht ganz so bekannter Zukunftsroman Brave New World - als visionäres Stück Literaturgeschichte gesehen, und das auch nicht zu Unrecht. Eines jedoch hat Orwell, wie ich, glaube ich, schon einmal erwähnt habe, nicht vorausgesehen: Kein Mensch zwingt uns, unsere Privatsphäre aufzugeben. Wir tun das ganz freiwillig und ohne darüber nachzudenken.

Seit dem 11. September 2001, jenem Tag, an dem vor allem die damals junge Generation, nämlich meine, die Illusion verlor, dass der Westen nahezu unantastbar ist, hat sich allmählich ein Gefühl der Unsicherheit eingeschlichen. Inzwischen glauben wir, die Welt war noch nie so unsicher wie heute - obwohl das ja so nicht wahr ist. In den Achtzigern hatten wir halt noch kein Internet, in dem die neuesten Schreckensmeldungen rund um die Uhr abrufbar waren. Ich war überrascht, als ich mit etwa zwanzig Jahren erfuhr, dass die "goldenen siebziger Jahre" gar nicht so golden waren - dass etwa Deutschland von etlichen Terroranschlägen heimgesucht wurde. Aber diese Flut an Information, der wir heute ausgesetzt sind, erzeugt ein Gefühl der permanenten Gefahr, das uns dazu bringt, unser Recht auf Privatsphäre Stück für Stück aufzugeben, da uns das trügerische Gefühl der Sicherheit als notwendiger erscheint. Anderen Leuten erklären wir, dass wir schließlich nichts zu verbergen hätten - aber bis wohin wird diese Toleranz gegenüber Eindringlingen in unser Privatestes reichen? Ich bin gewiss keine, die sich permanent beobachtet und überwacht fühlt - es beunruhigt mich nur, mit welcher Bereitwilligkeit manche Leute ihr Recht aufgeben, nicht permanent unter Beobachtung zu stehen, und auch anderen dieses Recht nicht mehr zugestehen. So wird jemand, der sich nicht vom Partner bespitzeln lässt, gern mal als nicht vertrauenswürdig eingestuft, während mancherorts Eltern, die nicht jeden Schritt ihres Kindes überwachen, als nachlässig angesehen werden. Und nicht zuletzt tragen auch das Internet und da besonders die sozialen Netzwerke dazu bei, dass wir unser Verhältnis zur Distanz immer mehr verlieren.

Heutzutage erfährt alle Welt, wie wir leben, wie wir fühlen, was wir anziehen, was wir essen, wohin wir auf Urlaub fahren. Ich warte eigentlich nur noch darauf, dass die Leute irgendwann einmal anfangen, Fotos von ihrem Stuhlgang auf Instagram zu posten - es würde mich, ehrlich gesagt, nicht mehr überraschen. Und die Distanzlosigkeit, die wir entwickeln, übertragen wir auch auf die nächste Generation - junge Mädchen schicken ihrem ersten Freund Nacktfotos per Handy, die diese nach einer Trennung aus Rache an der allzu Vertrauensseligen veröffentlichen. Ein Verhalten, dessen Grundstein mittlerweile schon in den ersten Lebensjahren gelegt werden kann - unter #deinkindauchnicht haben Prominente wie Wilson Gonzales Ochsenknecht eine Kampagne gestartet, die Eltern auf die Gedankenlosigkeit, ja sogar Fahrlässigkeit aufmerksam machen sollen, mit der Fotos von Kleinkindern zeitweise im Netz geteilt werden. Obgleich "Sharenting", wie man dieses Vorgehen nennt, nicht immer in böser Absicht geschieht; um ehrlich zu sein freue ich mich auch, zu sehen, wie sich die Kinder von Leuten, die ich nicht oft zu Gesicht bekomme, so entwickeln, und Mütter posten ihre Fotos ja auch oft in der Hoffnung, Gleichgesinnte zu finden. Es ist halt so, dass viele dabei mit sensiblen Daten sowie Grenzüberschreitungen, beispielsweise Fotos, die dem Kind später unangenehm werden könnten, unvorsichtig umgehen. Man denke an Woody Allens Kurzfilm Oedipus Wrecks oder den Spielfilm Stop! Or My Mom Will Shoot mit Sylvester Stallone; in beiden Filmen zeigt Mama die Babyfotos ihres inzwischen erwachsenen Sohnes in den unpassendsten Momenten herum. Und um ehrlich zu sein, finde ich Fotos von mit Essen bekleckerten oder vollgesabberten Babys und Kleinkindern nicht witzig und süß, sondern ziemlich abstoßend. Eine ganze Stufe gedankenloser sind allerdings diejenigen, die ihre Kinder schon zu Influencern machen, bevor diese auch nur ansatzweise kapieren, was das überhaupt sein soll.

Häufig wird beklagt, dass die Freizügigkeit zur Zeit der sexuellen Revolution aktuell einen Rückgang erlebt. Ich denke mir allerdings - es ist momentan gar nicht anders möglich. Obgleich auch ich den Einzug der Prüderie, wie er aus den USA zu uns herüberschwappt, zeitweise extrem übertrieben finde. Irgendwie herrscht zurzeit, auch in Bezug auf amerikanische Filme, eine merkwürdige Ambivalenz: Einerseits sind Liebesszenen in den neueren Erzeugnissen Hollywoods erstaunlich züchtig - bisweilen frage ich mich, wann es soweit ist, dass Eheleute wie in den Filmen der dreißiger Jahre wieder in getrennten Betten schlafen -, andererseits ist die Sprache in Komödien, und nicht nur in amerikanischen, oft auffallend vulgär. Ich habe dazu unten ein äußerst interessantes Video verlinkt, in dem erklärt wird, warum diese Art von Humor weitaus weniger mutig ist, als es den Anschein hat. Vorab nur soviel: Wo bleibt die vor allem für den Humor charakteristische Grenzüberschreitung, wenn es eigentlich gar keine Grenzen mehr gibt? Andererseits sind gerade die Filmanalyse-Videos von Wolfgang M. Schmitt ein schönes Beispiel dafür, dass Äußerlichkeiten oft über Inhalte hinwegtäuschen, denn Schmitt ist bei seinem oberflächlich gesehen doch eher konservativen Auftreten häufig erstaunlich provokant in seinen Ansichten. Deswegen sind seine Kritiken von Kinderfilmen für nostalgische Gemüter auch eher mit Vorsicht zu genießen.

Wie gesagt, sind wir heute wieder weit weniger freizügig als noch vor etwa 20 Jahren. In meiner Jugend war es praktisch normal, dass an Stränden oder in Schwimmbädern vor allem jüngere Frauen gern mal die Brüste entblößt hatten (hihihi, ein Busen!). Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gehörte es zum guten Ton, dass man es mindestens einmal im Leben ausprobiert hat. Heute findet man das fast gar nicht mehr. Andererseits ist Sex medial so präsent wie noch nie, ohne dass man sich in die mit einem Vorhang abgetrennte Abteilung der Videotheken stehlen muss - neben dem Vulgär-Humor ist auch Pornographie überall und jederzeit für jeden abrufbar, eventuelle Altersbegrenzungen sind leicht umgehbar, und obgleich die Jugend sich schamhafter zeigt als noch vor zehn Jahren, kommt sie doch schon weitaus früher mit Sex in Berührung, als es bei uns der Fall war. Aber vielleicht ist gerade das der Grund für diese Schamhaftigkeit - als ich ein Schulkind war, war Sexualität etwas Geheimnisvolles, das ich als unheimlich und faszinierend zugleich empfand. Damals begann der Sexualkundeunterricht erst mit der weiterführenden Schule - also 1. Klasse Hauptschule oder Gymnasium. Heute wird bereits in den Volksschulen aufgeklärt - was ich an sich auch für richtig halte, besonders in einer Welt, in der praktisch niemand diesem Thema ausweichen kann. Und gerade dieses Überangebot nimmt dem Sex das Geheimnis - weshalb junge Leute wohl weitaus weniger das Bedürfnis nach der direkten Konfrontation haben. Wenn man Fernsehsendern wie RTL glauben darf, knattert die Jugend sich vom 12. Lebensjahr aufwärts ununterbrochen durch alle Betten. Sowohl aus meinem Umfeld als auch im Austausch mit Lehrern oder Eltern von Teenagern kann ich allerdings versichern, dass Jugendliche heutzutage im Schnitt gar nicht so viel früher Sex hat als unsere Generation, auch wenn die Pubertät durchaus früher beginnt. Natürlich gibt es sie, die frühreifen Mädels, die mit zwölf aussehen wie achtzehn und schon mit dreizehn mehr Verflossene haben als andere mit dreißig. Aber die gab's doch auch schon in früherer Zeit - das sollten wir spätestens seit Peter Cornelius' Du entschuldige, i kenn di kapiert haben.

Insgesamt kann man sagen, dass die Verschmelzung des öffentlichen und privaten Lebens aktuell bisweilen eine eher bedenkliche Richtung einschlägt, wie ich finde. Und dies bekommen wir Supernormalos genauso zu spüren wie auch Personen des öffentlichen Lebens. Früher musste man InTouch und Die Bunte lesen, um über das aufregende Privatleben Prominenter Bescheid zu wissen. Heute weiß man es auch, wenn man es nicht will. Während ich das schreibe, diskutiert das halbe Internet über ein Foto, das Greta Thunberg ins Netz gestellt hat und auf dem sie im Zug auf dem Boden sitzt. Eine Momentaufnahme, die weit mehr Staub aufwirbelt, als sie es eigentlich müsste. Und ich habe auch nicht darum gebeten, über das Privatleben von Heidi Klum und Pietro Lombardi (den ich vor seiner Scheidung gar nicht kannte) informiert zu werden - trotzdem weiß ich über diese Gestalten weit mehr, als mir lieb ist. Auch mir fällt es, offen gestanden, nicht immer leicht, mich abzugrenzen - trotzdem tue ich mein Bestes und achte darauf, dass ich zumindest so sensible Themen wie gesundheitliche Probleme nicht wahllos in den Äther blase, und es würde mir beispielsweise nie einfallen, mein Liebesleben im Internet breitzutreten. Und ich stelle keine Fotos meines Essens ins Internet - aus Prinzip! Und weil ich der Ansicht bin, dass es weitaus spannendere Themen gibt als einen heutigen Speiseplan. In diesem Moment höre ich beispielsweise gerade ein Klavierkonzert von George Gershwin - das ist doch schon mal ein Anfang, oder nicht?

vousvoyez

"Sharenting": https://www.youtube.com/watch?v=pkbm102QX6k
Vulgär-Humor in Filmen: https://www.youtube.com/watch?v=St7FB9pR4z

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